Die Ballonfahrerin des Königs
sich was.»
«Hoffentlich», stöhnte Marie-Provence. Siebenundneunzig Fracht- und zehn Kriegsschiffe waren aus Portsmouth herübergesegelt
− sie hatte reichlich Zeit gehabt, sie zu zählen. Sie dort liegen zu sehen, stumm und regungslos, bis zum Bersten gefüllt
mit Truppen, Kriegsmaterial und Proviant, wie die Verkörperung einer unerreichbaren Freiheit, war schwer zu ertragen und schürte
eine dumpfe Angst in ihr.
«Sie kommen», sagte ihr Vater und reichte ihr das Fernrohr.
|442| Mehrere Barken waren an den Transportschiffen vertäut. Männer in roten Uniformen drängten sich auf den Decks.
«Reite jetzt zu Louis-Charles zurück.» Guy deutete nach vorn. «Die Forts schicken Soldaten. Gleich wird es hier ungemütlich.»
«Auf gar keinen Fall.» Marie-Provence gab Guy das Fernrohr zurück. «Ich bleibe, bis der Graf von Artois vor mir steht, und
dann bringe ich ihn zu Charles.»
«Vielleicht solltest du besser nicht erwähnen, dass wir in Maisons seine Keller überflutet und sein kostbarstes Porzellan
unter der Kaminplatte hervorgeholt haben», frotzelte ihr Vater. «Auf jeden Fall hoffe ich, du erwartest von Artois keine rührende
Szene.» Er verzog den Mund. «Darauf wirst du warten müssen, bis der Junge den Thron bestiegen hat und in der Lage ist, die
horrenden Schulden zu bezahlen, die sein Oheim im Ausland gemacht hat.»
Marie-Provence schüttelte den Kopf. «Wie auch immer. Charles braucht dringend jemanden aus seiner Familie, der ihm Halt gibt.
Er treibt dahin wie ein abgerissenes Blättchen im Sturm, das seinen Ast sucht. Und ein Ast kann ich ihm, trotz all meiner
Liebe, nicht sein.»
«Du musst ihm unbedingt von seiner Mutter erzählen.»
Marie-Provence starrte ihren Vater an. «Das kann ich nicht.»
«Wenn ein anderer an deiner Stelle …»
«Es geht über meine Kräfte. Artois soll es tun, ich werde ihn darum bitten.»
Guy legte eine Hand auf Marie-Provence’ Schulter und drückte sie. «Du hast recht, entschuldige. Du bist immer so stark – ich
vergesse allzu oft, dass auch deine Kräfte endlich sind.»
Marie-Provence lächelte, gleichzeitig füllten sich ihre Augen mit Tränen. Hatte sie nicht allen Grund, stolz auf sich zu sein?
Jeder war von ihrer Kraft überzeugt, jeder verließ sich auf sie. Schwach war sie nur nachts, wenn die Stimme der Sehnsucht
so laut in ihr brüllte, dass sie sich die Ohren zuhielt und in ihr Kissen biss.
|443| Es war bereits tiefe Nacht, als sich im Mondschein endlich zahlreiche Barken von den Transportschiffen lösten und auf das
Ufer zuruderten. Die republikanischen Soldaten im Fort hatten sie auch bemerkt: Signalfeuer wurden auf den Mauerkronen sichtbar.
Kurze Zeit später öffneten sich die Tore und entließen Soldaten in blauen Uniformen, die in Richtung Carnac marschierten.
Die flachen Barken der Royalisten teilten sich in zwei Gruppen auf, um ihre Feinde so lange wie möglich über den genauen Ort
der Landung im Unklaren zu lassen. Die Blauen hatten sich indes auf dem Strand von Carnac versammelt. Das Mondlicht ließ zweihundert
Männer erkennen, die sich zu einer abwehrbereiten Einheit formierten. Als Antwort wurden auf den Kähnen der Königsanhänger
die Fahnen entrollt − die Nacht hing voller Lilien.
Marie-Provence und ihr Vater fassten sich an den Händen und verschränkten wortlos die Finger. «Ich wünschte, deine Mutter
wäre hier, um das zu sehen», sagte Guy mit erstickter Stimme.
«Vive le roi!», erklang es vom Meer aus Dutzenden von Kehlen. «Es lebe der König!», hallte es als Antwort auch von den anderen
Booten. Jubelrufe vermischten sich mit rhythmischen Anfeuerungen an die Ruderer.
Guy de Serdaine streckte eine Faust in den Himmel. «Vive le roi!», brüllte er aus Leibeskräften, und seine Männer fielen mit
ihm ein. «Auf die Pferde! Marie-Provence, du bleibst hier. Keine Widerrede! Pips auch, du schützt meine Tochter und hinderst
sie notfalls, uns hinterherzureiten. Ich verlass mich auf dich! Und jetzt auf!» Mit einem Satz war er aufgesessen und preschte
davon, so schnell, dass seine Männer Schwierigkeiten hatten nachzukommen.
Marie-Provence trat nach einem Stein, mehr verärgert über die Bevormundung als über den Befehl, in Deckung zu bleiben. Sie
war nicht naiv genug, um zu glauben, dass sie in einem solchen Augenblick etwas anderes als ein Hindernis für ihre Truppen
gewesen wäre, und die Zeiten, in denen sie träumte, Soldat zu werden, waren lange vorbei. Sie
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