Die Ballonfahrerin des Königs
Anhänger wie möglich in ihre Reihen einzugliedern, geben sie sich zögerlich. Und auch wenn uns allen hier diese Zurückhaltung
unerklärlich ist – wir sind fest entschlossen, sie diesen Fehler büßen zu lassen.»
Cédric fixierte den General. Seine Haut beruhigte sich, und Gelassenheit überkam ihn.
***
Marie-Provence lugte aus dem Fenster. Was war da draußen bloß los?
Zwei Männer, auf deren Jacken die weißen Abzeichen der Chouans prangten, rannten die Straße hinunter. Schüsse fielen. Einer
der Männer stieß einen Schrei aus, stolperte. Ein roter Fleck breitete sich auf seiner Schulter aus. Der Erste kam zurück,
stützte ihn. Beide eilten davon.
«Halt! Halt im Namen der Republik!»
Soldaten. Blaue Uniformen!
Marie-Provence floh vom Fenster und prallte rücklings gegen einen Stuhl. Die Republikaner waren wieder da. Sie und Charles
mussten sofort weg aus Auray!
In dem Augenblick polterte es unten an der Tür. Das Hausmädchen eilte hin, um aufzumachen, Marie-Provence hastete zu Charles’
Zimmer. Der Junge lag im Bett, nassgeschwitzt und heiß. Sie berührte ihn sanft. «Charles! Charles!» Er reagierte nicht. Seine
Augen waren geschlossen und lagen tief in den Höhlen. Offenbar konnte er sie nicht |459| hören. An Laufen oder Fliehen war gar nicht erst zu denken. Ich muss ihn tragen, dachte sie. Und ich brauche eine Decke, um
ihn zu schützen und zu verbergen!
Auf einmal baute sich eine Gestalt im Türrahmen auf, so unvermutet, dass Marie-Provence einen Schrei ausstieß.
«Mademoiselle, Sie und das Kind müssen hier schnellstens weg. Alles ist verloren, Auray gehört wieder den Blauen!» Es war
Glain, der Notar und ihr Gastgeber, der sich schnaufend an der Türlaibung festhielt. «Sie suchen mich, weil ich übergelaufen
bin – in meinem Haus werden sie als Erstes auftauchen.»
«Ich kann nicht einfach auf die Straße rennen!», rief Marie-Provence. «Jeder feindliche Soldat wird unsere Beschreibung haben!»
Glain wischte über seine schweißnasse Stirn. «Warten Sie», beschied er ihr. Er verschwand. Kurze Zeit später schleuderte er
ein Kleid sowie ein paar Männersachen aufs Bett. «Das gehört mir und einer unserer Mägde. Damit werden Sie wenigstens von
weitem die Soldaten täuschen. Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Ich kann jetzt nicht länger warten. Adieu – und viel
Glück!»
Er war weg, bevor Marie-Provence etwas erwidern konnte. Sie riss Charles das Nachthemd vom Leib, streifte dem schweratmenden
Kind das dunkelgraue Kleid der Magd über und band ihm die weiße Schürze um. Schließlich setzte sie ihm die graue, schwarz
eingefasste Kinderhaube auf, die leider nur den oberen Teil des Schädels bedeckte. Dann schlüpfte sie ihrerseits in Glains
Sachen. Das Wams war ihr zu groß, die Wollstrümpfe schlugen Falten um ihre Waden, und die Ärmel des weißen Hemdes musste sie
ein paarmal umschlagen. Mit einer Raffkordel, die sie vom Vorhang riss, passte Marie-Provence die viel zu weite Kniebundhose
an ihre Hüften an. Sie betete zu Gott, dass ihr seltsamer Aufzug nicht weiter auffallen würde. Doch liefen nicht die meisten
Chouans mit zusammengestückelten Kleidern herum? Wie auch immer, sie hatte keine Wahl. Zuletzt stopfte sie ihr Haar unter
einen breitkrempigen Filzhut.
|460| Sie hob Charles auf, der einen leisen Klagelaut ausstieß. Marie-Provence keuchte, wobei ihr die Leblosigkeit des Kindes mehr
zu schaffen machte als dessen Gewicht. So schnell sie es vermochte, eilte sie nun zur Treppe. Der Haupteingang schien ihr
zu gefährlich, also hastete sie zur Küche und riss die Tür auf, die in den Garten führte.
Draußen stand die Hitze. Vor ihr abgeerntete Obstbeete, rechts eine Mauer und ein schmales hölzernes Tor mit Oberlicht. Dahinter
eine Nebenstraße.
«Hier ist es!» Zweispitzer mit blauweißroten Kokarden schwebten im Ausschnitt der Holztür. Marie-Provence schreckte zurück,
krümmte sich schützend über ihrer kostbaren Last und presste sich an die Mauer. Die Tür ging auf, verbarg sie in ihrem Schatten.
Soldaten drangen in den Garten ein und liefen in Richtung Haus. Marie-Provence schlüpfte auf die Straße.
Sie lief die Gasse hinunter bis zu einer Kreuzung. Nach rechts oder links? Sie kannte diese Stadt nicht und hatte keine Ahnung,
wie sie aus ihr herauskommen sollte. Sie bog aufs Geratewohl ab. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Das leblose Bündel
lastete schwer in ihren Armen. Wie konnte ein
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