Die Ballonfahrerin des Königs
schlecht aus. Jede Menge Infanterie nähert sich von Osten. |494| Wir haben bereits Männer verloren und fast alle Vorräte zurücklassen müssen.»
«Ist gut.» Cadoudal winkte den beiden Spähern zu. «Kommt runter vom Turm, wir brechen auf!» Als er Marie-Provence entdeckte,
runzelte er die Stirn. «Sie sind noch da? Warum sind Sie nicht längst unterwegs nach Quiberon?»
«Haben Sie Nachricht von meinem Vater, capitaine Guy de Serdaine?», fragte Marie-Provence den Reiter.
«Die ordentlichen Offiziere sind schon lange auf der Halbinsel. Wahrscheinlich machen sie es sich dort gerade bei einer Partie
Whist gemütlich», warf dieser beißend zurück.
«Schluss jetzt», ging Cadoudal dazwischen. «Du nimmst die Dame mit. Ich werde euch mit meinen Männern decken.»
«Warum kommst du nicht auch?»
«Wenn wir wegrennen, gibt es kein Halten mehr. Ein schneller Rückzug bevor die Flut kommt, wäre eine Katastrophe. Die Bucht
muss so lange von uns gesichert sein, bis alle Zivilisten …»
Marie-Provence nutzte Cadoudals Unachtsamkeit, um sich davonzupirschen. Eilig betrat sie die Kapelle. Ein Blick zeigte ihr
den Zugang zum Turm, und sie huschte die Stufen hoch. Oben stank es nach Tabakrauch und ungewaschenen Körpern. Sie zog das
Papier hervor, das sie sich gestern im Erdloch von Cadoudal erbeten hatte. Mehr schlecht als recht hatte sie es mit ihrem
Haar und ein paar Wachstropfen versiegelt, doch es würde ausreichen.
An den Oberbefehlshaber der republikanischen Armee, General Hoche
. Ihre Finger strichen über die mit Bleistift gezogenen Zeilen.
«Bring ihm Glück!», raunte sie. Dann legte sie den Brief gut sichtbar inmitten des Glockenturms aus. Wenn die nachrückenden
Blauen die Kapelle in Besitz nehmen würden, mussten sie ihn finden. Wenn der Brief hingegen von ihrem eigenen Lager entdeckt
wurde … Marie-Provence sah sich nervös nach der Treppe um. So harmlos der Inhalt des Briefes auch war, ihre Geste konnte durchaus
als Verrat interpretiert werden.
|495| «Wo bleiben Sie denn?» Der Chouan, dem sie von Cadoudal anvertraut worden war, winkte ihr ungnädig zu, als sie aus der Kapelle
trat.
«Beten Sie etwa nie?», fragte ihn Marie-Provence achselzuckend und schritt mit erhobenem Kopf an ihm vorbei. Gut, dass er
nicht sehen konnte, wie weich ihre Knie waren.
«Lauft schneller! Sie kommen!», schrie jemand.
Marie-Provence hatte ihre Röcke gerafft und eilte über das stoppelige Gras, froh, den felsigen Abschnitt hinter sich zu haben.
Sie hustete. Die Luft war durchsetzt von beißendem Pulvergeruch. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. In der Tat waren
die Rauchschwaden näher gerückt. Schon lange hörte man die Salven der republikanischen Artillerie. Die Chouans bildeten einen
Schutzwall um die Flüchtlinge. Schritt für Schritt wichen sie unter Cadoudals eisernem Kommando zurück und feuerten als Antwort
immer wieder ihre Gewehre ab – die einzigen Feuerwaffen, die sie besaßen; alles andere lagerte in Quiberon, von Hervilly eifersüchtig
bewacht. Die Wut, die Marie-Provence bei diesem Gedanken packte, gab ihr neue Kraft. Wie lange lief sie jetzt schon? Es musste
weit über eine Stunde sein. Sie atmete schnell.
Von Osten strömten noch immer Menschen aus Carnac und seiner Umgebung. Die zurückkehrende Flut schwappte ihnen an die Beine.
Auch zu Marie-Provence’ Rechten rückte der Ozean näher, da sich der Landstrich allmählich verjüngte.
«Die Flut steigt! Lauft schneller, da vorne, sonst kommen wir hier hinten nicht mehr durch», brüllte eine Stimme, kaum verständlich
im ohrenbetäubenden Lärm der Schüsse und des brandenden Ozeans. Und die Stimme hatte recht – bald würde keiner mehr durch
die Bucht kommen. Die Nachzügler, die den langen Umweg über Sainte-Barbe würden machen müssen, hatten kaum noch eine Chance,
den vorstoßenden Blauen zu entkommen. Doch die Menschen kamen nicht schneller voran, sie behinderten sich gegenseitig. Immer |496| dichter drängten sie sich jetzt auf der Landzunge. Dann tauchte vorne, auf den Felsen, eine massige Silhouette auf.
Das Fort!
Marie-Provence musste ihre Schritte zügeln. Vor ihr stolperte ein kleiner braunhaariger Junge, stürzte und jammerte. Seine
Mutter trug einen Säugling auf dem Arm und zog eine alte Frau mit sich. Sie ermunterte den Sohn mit angsterfüllter Stimme,
wurde aber von den Nachrückenden weitergetrieben. Marie-Provence blieb stehen und lächelte dem Jungen zu.
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