Die Ballonfahrerin des Königs
ihr in die Barke schwang. Er drückte sie in das stinkende Boot. «Los, Männer,
an die Ruder! Sie kommen näher!»
Marie-Provence hockte sich auf den Boden nieder und spähte über den Rand. Am Wassersaum bohrten die Soldaten ihre Stützstäbe
in den Sand und legten darauf das Ende ihrer langen Bajonettläufe ab, während hinter ihnen der lange Trupp der Gefangenen
vorbeizog, Männer und Frauen, rote Uniformen und Zivilisten gemischt, sogar eine blaue Uniform befand sich dazwischen … Marie-Provence stockte der Atem. Sie kniete sich hin.
«Bist du verrückt?», brüllte ihr Vater. Er warf sich auf sie. Im gleichen Augenblick fielen Schüsse. Holz splitterte.
«Jemand verletzt?», rief ihr Vater und richtete sich auf. «Nein? Dann an die Ruder! Wir müssen schleunigst aus ihrer Schussweite
kommen, während sie nachladen!»
Marie-Provence richtete sich ebenfalls auf. Fiebrig suchte ihr Blick den Strand ab. Und da sah sie ihn wieder. Er war es,
kein Zweifel! «André!», schrie sie aus Leibeskräften.
|546| Ihr Vater fuhr herum. «Was sagst du da?»
Als der Soldat, dessen blaue Uniform ihn unter allen anderen Gefangenen hervorhob, stehen blieb, fielen die letzten Zweifel
von Marie-Provence ab. «André!», schrie sie erneut. Sie schnellte hoch.
«Was hast du vor?», hörte sie ihren Vater rufen. Doch sie achtete nicht auf ihn und riss eines der Ruder an sich. Dann sprang
sie ins Wasser.
Die Wellen schlugen über ihrem Kopf zusammen, Luftblasen umtanzten sie, ein Rauschen in ihren Ohren, und schon war sie wieder
oben. Sie hielt krampfhaft das hölzerne Ruder fest, trat wild mit den Beinen.
«Marie! Marie, was machst du da?», schrie Guy. Verzweiflung lag in seiner Stimme. «Komm zurück!» In dem Augenblick wurde vom
Strand die zweite Salve abgefeuert. Guy de Serdaine wurde von seinen Männern ins Boot gedrückt.
Mit rasendem Herzen arbeitete sich Marie-Provence durch das tosende Wasser. Gedanken, Gefühle hatten keinen Platz in diesem
Überlebenskampf. Sie trat, schnappte nach Luft und klammerte sich fest, getrieben von der tiefen Überzeugung, dass sie das
Richtige tat.
«Feuer einstellen! Sie sind zu weit weg!», brüllte jemand am Strand.
Schließlich, nach schier endloser Zeit, spürte Marie-Provence Boden unter den Fußspitzen. Sie kämpfte sich weiter in Richtung
Strand, stolperte vorwärts, widerstand dem ablaufenden Wasser. Endlich warf sie das Ruder weg.
Die Soldaten, die sie aus den Wellen auftauchen sahen, starrten sie an wie eine Erscheinung. Keiner von ihnen machte Anstalten,
sie festzuhalten, als sie zu dem Gefangenentrupp lief, zu dem einzigen Gefangenen in einer blauen Uniform, triefend nass und
bebend am ganzen Körper.
«André», flüsterte sie und sah zu ihm hoch.
«Marie?», fragte er fassungslos. «Warum, um alles in der Welt, bist du zurückgekommen?»
Seine Locken wucherten bis an seine unrasierten Wangen. |547| Sie entdeckte all die Spuren an ihm, die Bitterkeit und Leid in sein Gesicht gegraben hatten und die ihr während ihres nächtlichen
Treffens verborgen geblieben waren: den zynischen Zug um den Mund. Die vorgetäuschte Härte in seinem Blick. Wie fremd und
verrucht er wirkte, in seiner schmutzigen Offiziersjacke! Ihre Liebe und ihr Verlangen nach ihm wurden übermächtig.
«Marie!» Die Stimme ihres Vaters.
Sie drehte sich zum Meer. Die Barke war schon weit weg. Noch immer wehrte sich ihr Vater gegen seine Männer, die ihn nur mit
Not davon abhalten konnten, von Bord zu springen.
«Lass mich gehen, Vater!», rief Marie-Provence. «Ich bleibe hier!»
«Nein!» Der verzweifelte Schrei ihres Vaters erschütterte sie bis ins Mark. Er resignierte sichtlich und ließ sich auf die
Ruderbank sinken. Seine Männer ergriffen die verbleibenden Ruder. Langsam, doch unaufhaltsam entfernte sich die Barke in Richtung
der englischen Schiffe.
Marie-Provence schluchzte auf und wandte sich ab, während irgendwo der Befehl zum Weitermarschieren gegeben wurde.
|548| 17. KAPITEL
Thermidor, Jahr III
Juli 1795
«Théroigne sagte mir, dass du Erfahrung in der Behandlung von Kranken hast, citoyenne?», fragte Kerarmel.
Marie-Provence lächelte den Chirurgen offen an. «Ich war die Assistentin von docteur Jomart, dem Arzt des Waisenhauses in
Paris. Ich habe Théroigne dort kennengelernt, als sie den kleinen César zugeteilt bekam.»
«Exzellent. Ich bin Théroigne wirklich dankbar, dass sie dich empfohlen hat – und dass du zudem so
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