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Die Ballonfahrerin des Königs

Titel: Die Ballonfahrerin des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Douglas
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übersäte Kranke, die mit stumpfem Blick an den Mauern
     hockten. Kaum ein Platz, um sich auszustrecken. Mein Gott, waren das die stolzen, wilden Männer, die die republikanische Armee
     das Fürchten gelehrt hatten? Wie viele Tausend mochten hier unter diesen unwürdigen Bedingungen eingepfercht sein?
    «Streck mal die Zunge raus.» Kerarmel war vor einem Mann niedergehockt und spähte in dessen Mundhöhle. Er stand mit besorgter
     Miene auf. Nachdem er mehrere Kranke gebeten hatte, ihre Oberkörper freizumachen, und auf ihnen einen rötlichen Ausschlag
     feststellte, verdüsterte sich sein Gesicht. Er trat zu dem Wächter.
    «Typhus», sagte er.
    Marie-Provence überlief eine Gänsehaut.
    «Gibt es schon Tote?», fragte Kerarmel.
    Der Offizier nickte. «Fünf Stück. Schätze aber, mindestens drei Dutzend weitere sind krank.»
    |551| Kerarmel und Marie-Provence sahen sich an.
    «Wenn Sie hier nicht bald für Sauberkeit und ordentliche Nahrung sorgen, werden Sie kaum noch jemanden haben, den Sie vors
     Tribunal stellen können», stellte der Chirurg sachlich fest.
    Marie-Provence bekämpfte einen Anflug von Panik. André! Ihr Tuch fest aufs Gesicht gepresst, lief sie los. Spähte in Hunderte
     von Gesichtern. Versuchte, in dieser unübersichtlichen Menge von Körpern eine blaue Uniform zu entdecken. Nichts. Wo war er?
     Schließlich hastete sie zum Offizier zurück. «Sind das alle Gefangenen?», fragte sie atemlos. Als dieser nickte, fasste sie
     sich an den Hals. «Die Toten. Kann ich die sehen?»
    Der Soldat sah sie überrascht an. «Nein, Mädchen, tut mir leid. Die sind heute Morgen zum Friedhof gebracht worden.»
    Sie knetete das Tuch in ihren Händen. «War ein Mann in einer blauen Uniform darunter?», fragte sie, und ihre Stimme versagte
     beinahe. «Schlank, dunkle, lockige Haare   …»
    «Ach, du meinst den Ballonfahrer? Nein, der ist noch hier. Den haben wir isolieren müssen, er sitzt als Einziger alleine in
     einer Zelle.»
    Isolieren? Warum? Marie-Provence packte den Arm des Soldaten. «Führ mich zu ihm», bat sie.
    Sie stießen in einen Seitenflügel vor. Ein langer fensterloser Gang verlor sich im Dunkeln, etliche Türen gingen von ihm ab.
     Vor einer machten sie halt.
    «Hier ist es. Früher haben die Mönche hier wohl geschlafen.» Die Tür war mit einem kleinen Holzladen versehen, den der Soldat
     jetzt aufklappte. Gitterstäbe kamen zum Vorschein. «Hier kannst du durchschauen, wenn du willst.»
    Marie-Provence trat an die Tür. Ihr Herz klopfte wie wild. Die Zelle war klein. Obwohl sie um etliches sauberer war als der
     Hof, waberte auch hier derselbe Gestank wie überall im Gebäude. Ein Nachttopf stand in einer Ecke. Die einzigen Möbel waren
     ein Hocker, auf dem ein Wasserkrug stand, und eine Pritsche mit einem Strohsack. Auf diesem hockte, |552| eng an die Mauer gekauert, eine Gestalt. Marie-Provence stieß einen Schrei der Erleichterung aus.
    «André!»
    André hob den Kopf. Er war schrecklich anzusehen. Sein linkes Auge war geschwollen, seine Lippen waren blutverkrustet, eine
     Platzwunde klaffte an seinem Kinn. Durch die Risse seiner Uniform waren weitere Verletzungen sichtbar.
    Marie-Provence wirbelte zu dem Soldaten herum. «Was habt ihr ihm angetan?»
    «Wir? Wir haben ihn nicht angerührt!», beteuerte der Offizier. «Was meinst du, warum wir ihn hier isoliert haben? Um ihn vor
     den anderen Gefangenen zu schützen! Bis wir gemerkt haben, was da ablief, hatten die ihn schon ganz schön hart rangenommen.»
    «Ich will zu ihm», verlangte Marie-Provence. Als der Soldat eine abwehrende Geste machte, fuhr sie ihn an. «Warum, wenn er
     doch nichts getan hat?»
    «Das hab ich nicht gesagt», sagte der Mann. «Die anderen haben angefangen, aber er hat auch kräftig ausgeteilt. Er hat ein
     halbes Dutzend Mitgefangene übel zugerichtet. Das können wir nicht folgenlos durchgehen lassen, nicht bei dreitausendfünfhundert
     Männern im Hof.» Er schüttelte den Kopf. «Er bleibt diese Woche in Isolationshaft.»
    Marie-Provence wandte sich wieder zu dem kleinen Gitter und umklammerte die Eisenstäbe. Er war aufgestanden. Langsam trat
     er näher. Er starrte vor Dreck, Bartstoppeln wucherten auf seinem Kinn. Die Wangen waren eingefallen, die Nase trat scharf
     hervor. Und in seinen Augen loderte etwas, was früher dort nicht gewesen war: Auflehnung. Jetzt weißt du es auch, Liebster,
     dachte Marie-Provence, wie es sich anfühlt, das Unrecht, die Willkür.
    «Marie? Was machst du hier?»,

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