Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
spürte ein Kribbeln im Nacken. Ihr Mund war ausgetrocknet.
»Weil sie ihm nicht geglaubt haben«, sagte Belknap nüchtern.
Sie wollte einen kleinen Schluck von ihrem Eiswasser nehmen, aber daraus wurde ein langer Zug. Das Glas war leer, als sie es abstellte.
»Sehen Sie, das ist etwas, das wir gemeinsam haben. Einen sechsten Sinn für Dinge, die sich nur zu summieren scheinen. Man hat Ihnen eine vernünftige, plausible Erklärung gegeben. Aber irgendwie hat sie Sie nicht überzeugt. Sie wissen nicht genau, was daran nicht stimmt, sondern nur, dass etwas daran faul ist.«
»Bitte geben Sie nicht vor, mich zu kennen.«
»Ich sage nur, was Sache ist. Viele wahre Dinge sind auf den ersten Blick unlogisch. Das wissen Sie. Jemand hat versucht, Ihnen eine logische Erklärung für etwas zu geben, das Sie seit Langem beschäftigt. Tatsache ist, dass Sie weiterhin nicht überzeugt sind. Sonst würden Sie nicht hier sitzen und den schlechtesten Kaffee von Lower Manhattan trinken.«
»Vielleicht«, antwortete sie unsicher. »Oder vielleicht tue ich’s aus Dankbarkeit.«
»Sie wissen, dass das nicht stimmt. Wäre ich nicht gewesen, hätten Sie gar nicht erst gerettet werden müssen.«
Andrea studierte Belknaps Gesicht und versuchte sich vorzustellen, wie sie ihn sehen würde, wenn dies ihre erste Begegnung wäre. Sie säße einem gut aussehenden Mann mit markanten Gesichtszügen gegenüber, der athletisch und … einschüchternd wirkte. Seine harten Muskeln stammten nicht aus dem Fitnessstudio; sie waren nicht antrainiert, sondern natürlich gewachsen: zur Arbeit bestimmte Muskeln, keine Showobjekte. Und er hatte noch etwas anderes an sich: die bewusste Selbstbeherrschung eines Mannes, der außer Kontrolle geraten konnte, wenn er sich gehen ließ. Ein brutaler Kerl? Ja, in gewisser Beziehung. Aber
mehr als nur das. Seine Persönlichkeit hatte eine sehr starke Ausstrahlung.
»Wie kommt’s eigentlich«, fragte sie nach einer längeren Pause, »dass Sie mich immer wieder korrigieren, wenn ich gut von Ihnen zu denken versuche?«
»Stellen Sie sich einen See vor, dessen Wasser sehr dunkel und sehr tief ist. Und Sie sind darauf in einer Nussschale unterwegs. Man hat Ihnen erzählt, die einzigen Tiere im See seien harmlose kleine Fische. Aber auf irgendeiner Ebene glauben Sie das nicht. Sie fürchten, dass in der dunklen Tiefe ein Ungeheuer lauert.«
»Ein See«, meinte Andrea nachdenklich. »Wie Inver Brass … Was denken Sie also? Hat Paul Bancroft Inver Brass wiederaufleben lassen? Ist er Genesis?«
»Was glauben Sie?«
»Ich bin im Zweifel.«
»Hören Sie, Sie müssen davon ausgehen, dass alles, was er Ihnen erzählt hat, gelogen war.«
»Aber das tue ich nicht«, sagte Andrea. »Das wäre in gewisser Weise allzu offenkundig, und Paul Bancroft ist kein Mann fürs Offenkundige. Ich glaube, dass vieles von dem, was er mir erzählt hat, wahr war. Vielleicht auf eine Art und Weise wahr, die wir nicht ganz begreifen.«
»Wir reden von einem Menschen aus Fleisch und Blut, nicht von einem griechischen Gott«, knurrte Belknap.
»Sie kennen ihn nicht.«
»Danke, nicht nötig. Ich habe fünfundzwanzig Jahre damit verbracht, alle möglichen Arschlöcher aufzuspüren. Im Kern sind sie sich alle recht ähnlich.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Er ist anders als alle Menschen, die Sie kennen. Damit müssen Sie schon mal anfangen.«
»Unsinn. Er zieht seine Hose an wie jeder: ein Bein nach dem anderen.«
»Oh, wirklich subtil, Todd«, sagte sie eigenartig verbittert. Andrea merkte, dass sie errötete; dies war das erste Mal, dass sie ihn mit dem Vornamen angesprochen hatte. Sie fragte sich, ob er’s ebenfalls bemerkt hatte. »Paul Bancroft ist der brillanteste Mann, den Sie oder ich jemals kennenlernen werden. Als er noch am Institute for Advanced Study war, hat er mit weltberühmten Gelehrten geplaudert – Kurt Gödel, Robert Oppenheimer, Freeman Dyson, sogar Albert Einstein, verdammt noch mal –, und sie haben ihn als ihresgleichen angesehen. Er war völlig gleichberechtigt.« Sie machte nur eine Pause, um Atem zu holen. »Sie finden es vielleicht tröstlich, Männer auf Ihre eigene Ebene herunterzuziehen, aber Sie können sich nicht vorstellen, wie lächerlich es klingt, Sie so über Paul Bancroft herziehen zu hören.« Sie staunte darüber, wie hitzig sie gesprochen hatte. Vielleicht hoffte sie noch immer, Bancroft werde gerechtfertigt werden, indem ihre Ängste und Befürchtungen sich als gegenstandslos
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