Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
in einen Debattierklub. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus und sah, wie der Hemdsärmel sich über seinem Bizeps spannte, wie die Hand, die das Lenkrad leicht umfasst hielt, lädiert und kräftig zugleich wirkte. Sie fragte sich träge, was er wohl von Brent Farley gehalten hätte. Der muskelbepackte Agent, über den Brent vielleicht nur die Nase gerümpft hätte, hätte ihn vermutlich mit einem bloßen Händedruck auf die Knie zwingen können. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln.
»Was?«, fragte Belknap.
»Nichts«, sagte sie etwas zu hastig.
Was hielt er von ihr? Sah er sie als verwöhnte Lady aus Connecticut, die in etwas hineingeraten war, das über ihren Horizont ging? Als ewige Studentin, die ihren Birkenstock erst vor Kurzem entwachsen war?
»Wissen Sie«, sagte sie einige Minuten später, »ich bin eigentlich gar keine Bancroft.«
»Das haben Sie mir schon erklärt.«
»Meine Mutter … sie wollte mich vor der Familie schützen. Sie war verletzt worden; das wollte sie mir ersparen. Aber einen Teil des Daseins einer Bancroft hat sie zu schätzen gewusst, auch wenn ich das nicht verstehen kann. Die Stiftung hat ihr wirklich etwas bedeutet. Ich wollte, wir hätten darüber reden können.«
Belknap nickte schweigend.
Sie dachte laut nach und wusste nicht einmal, ob er ihr zuhörte, aber andererseits schien ihn das auch nicht zu stören. Immerhin war das ein wenig besser, als mit sich selbst zu sprechen.
»Paul hat gesagt, er habe sie geliebt. ›In gewisser Weise‹, hat er gesagt. Aber ich glaube, er hat’s getan. Sie war schön, aber beileibe keine puppenhafte Schönheit. Sie war lebhaft. Respektlos. Witzig. Temperamentvoll. Und manchmal depressiv.«
»Wegen der Trinkerei?«
»Ich dachte wirklich, die hätte sie aufgegeben. Angefangen hat alles mit Reynold. Ungefähr ein Jahr nach der Scheidung jedoch hat sie sich geschworen, keinen Tropfen mehr anzurühren. Und das war’s dann. Ich habe sie nie wieder mit einem Drink in der Hand gesehen. Andererseits hat’s viel gegeben, was ich nicht über sie gewusst habe. So viele Dinge, dass ich mir wünsche, ich könnte mir ihr darüber reden.« Sie spürte, dass sie feuchte Augen bekam, und versuchte die Tränen wegzublinzeln.
Er musterte sie mit steinernem Blick. »Manchmal sind die Fragen wichtiger als die Antworten.«
»Erzählen Sie mir etwas. Haben Sie jemals Angst?«
Wieder ein steinerner Blick.
»Das ist mein Ernst.«
»Jedes Tier kennt Angst«, sagte Belknap. »Man sieht eine Maus, ein Eichhörnchen, einen Fuchs oder ein Hausschwein. Kann es denken? Keine Ahnung. Ist es sich seiner Existenz bewusst? Vermutlich nicht. Kann es lachen? Das bezweifle ich. Kann es sich freuen? Schwer zu sagen. Aber eines steht fest: Man weiß, dass es Angst haben kann.«
»Ja.«
»Angst ist wie Schmerz. Schmerz ist produktiv, wenn er einen warnt, dass man eine heiße Herdplatte berührt oder einen scharfen Gegenstand angefasst hat. Liegt andererseits eine chronische Infektion vor, nützt er einem nichts. Er hindert einen nur daran, normal zu funktionieren. Angst kann einem das Leben retten. Angst kann Ihr Leben aber auch zerstören.«
Andrea nickte langsam. »Wir nehmen die nächste Ausfahrt«, sagte sie nach einiger Zeit.
Drei Meilen weiter erreichten sie den Clear Creek Inn, in dem sie ein Zimmer reserviert hatte. Sie fühlte einen eisigen Schreck, blinzelte und sah dann, weshalb. Auf dem Parkplatz stand, an seinen Wagen gelehnt, die unverkennbar massige Gestalt des namenlosen Mannes von der Bancroft-Stiftung.
Jesus, nein! Ihr Herz begann zu hämmern, während in ihrem Inneren Angst und Empörung miteinander rangen. Diese Leute wollten sie einschüchtern, das war klar, und diese Erkenntnis machte sie wütend.
»Weiterfahren«, sagte Andrea, ohne die Stimme zu erheben. Sie war ängstlich, gewiss, aber auch entschlossen. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen. Ihre Mutter hatte mehr verdient. Sie hatte mehr verdient, verdammt noch mal.
Belknap gehorchte, ohne eine Sekunde zu zögern. Erst als sie wieder auf der Interstate waren, sah er fragend zu ihr hinüber.
»Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.«
»Bitte erzählen Sie mir nicht, dass Sie das Zimmer unter Ihrem eigenen Namen reserviert haben«, knurrte er.
»Nein, nein, ich … ich habe stattdessen den Mädchennamen meiner Mutter benützt.« Schon als sie das sagte, war ihr beklommen zumute.
»Na, das wird sie gewaltig täuschen. Und dann haben Sie vermutlich
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