Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
wachsam, aber sein Lächeln war ungezwungen. »Welche unverschämten Wünsche führen dich zu mir?«
Das Aktenlager in der Binnewater Road in Rosendale, unmittelbar nördlich von New Paltz, war ein ehemaliges Bergwerk, das in ein Hochsicherheitsarchiv umgebaut worden war. Andreas Taxi hielt vor dem Eingang. Von außen war nicht viel zu sehen außer
einer riesigen schwarzen Kunststoffplane – eine Feuchtigkeitssperre –, die einen sandigen Hügel bedeckte. Sie zeigte dem Wachmann ihren Ausweis, der die Schranke öffnete, damit das Taxi auf den großen Parkplatz fahren konnte. Dort standen keine Gebäude, denn alle Einrichtungen des Archivs befanden sich unter der Erde. In diesem Gebiet, das hatte sie gelesen, war früher viel Kalkstein abgebaut worden, der wegen seines niedrigen Magnesiumgehalts als Rohstoff für die Zementherstellung sehr gesucht gewesen war. Tatsächlich war ein Großteil des heutigen Manhattans mit diesem Material erbaut worden. In einer der ehemaligen »Zementminen« hatte sich die Secure Archive Inc. etabliert. Obwohl die meisten Leute von einem »Erzberg« sprachen, handelte es sich in Wirklichkeit um mit Stahl ausgekleidete Bergwerksstollen.
Im Eingangsbereich wurde ihr Lichtbildausweis sorgfältig geprüft. Ihr Freund bei der Finanzbehörde des Bundesstaats New York hatte am Morgen zuvor angerufen und ihren Besuch angekündigt; nach außen hin war Andrea eine unabhängige Wirtschaftsprüferin, die in staatlichem Auftrag unterwegs war. Am Eingang saß hinter einer Theke aus Walnussfurnier ein birnenförmiger, schwarzhaariger Mann mit tief in den Höhlen liegenden Augen, breiten Schultern und beginnender Stirnglatze. Er schien Ende dreißig zu sein. Trotz seiner Leibesfülle war sein Gesicht eigenartig hager; seine Haut spannte sich straff über deutlich hervortretenden Knochen. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, gab der Mann ihr fast widerstrebend einen Besucherausweis mit Magnetstreifen.
»Damit können Sie alle Aufzüge benützen und alle Türen öffnen«, sagte er im Tonfall eines Mannes, der solche Anweisungen täglich herunterleiert. »Der Ausweis ist ab dem Einchecken acht Stunden gültig. Achten Sie bitte darauf, vorher zurückzukommen. Bei weiteren Besuchen müssen Sie sich erneut anmelden, damit Ihr Ausweis wieder aktiviert werden kann. Und Sie müssen
ihn ständig bei sich tragen.« Er tippte mit einem langen Fingernagel darauf. »Dieses Ding hier schaltet in jeder Abteilung, die Sie betreten, automatisch das Licht ein. Achten Sie bitte auf Personal, das auf Elektrokarren unterwegs ist. Sie piepsen wie die Wägelchen auf Flughäfen. Hören Sie das Piepsen, treten Sie bitte zur Seite, weil die Karren ziemlich schnell vorbeiflitzen. Brauchen Sie andererseits selbst einen Wagen, benützen Sie das nächste Telefon, um einen anzufordern – mit Namen, Kennziffer, all dem guten Scheiß. Alles klar? Waren Sie schon mal in einem Archiv dieser Art, kennen Sie das System; falls nicht, sollten Sie etwaige Fragen jetzt stellen.« Als er aufstand, sah Andrea, dass er kleiner war, als sie gedacht hatte.
»Wie groß ist diese Einrichtung?«
Er sprach im Tonfall eines Fremdenführers weiter. »Wir haben knapp hunderttausend Quadratmeter auf drei Ebenen. Das Raumklima wird ständig überwacht, Kohlendioxidgehalt und Feuchtigkeit werden automatisch reguliert. Dies ist keine Kleinstadtbücherei. Wie ich schon gesagt habe, sollten Sie sich nicht verlaufen oder Ihren Besucherausweis verlieren. Auf jeder Ebene finden Sie am Aufzug ein Computerterminal, mit dem Sie die Koordinaten aller gesuchten Bestände finden können. Sie bestehen aus Buchstaben und Ziffern, die Ebene, Sektor, Abschnitt, Reihe und Regal bezeichnen. Total einfach, wenn man’s kapiert hat, sage ich immer, aber tatsächlich kapiert das kaum jemals ein Besucher.«
»Danke für das Vertrauensvotum«, sagte Andrea mit mattem Lächeln. Sie wusste, dass solche Einrichtungen riesig waren, aber sie hatte keinen Begriff davon, wie groß diese war, bis sie aus dem Glaskasten des langsam in die Tiefe sinkenden Aufzugs die beiden oberen Ebenen betrachtete. Sie glichen einer unterirdischen Stadt, einem expressionistischen Einfall, einem Szenenbild aus Fritz Langs Metropolis . Einer Katakombe des digitalen Zeitalters. Mikrofiches, Mikrofilme, gewöhnliche Akten,
Krankenakten, Magnetbänder, alle nur vorstellbaren Speichermedien mit allem, zu dessen Aufbewahrung Unternehmen und Stadtverwaltungen gesetzlich verpflichtet waren,
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