Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
Kadriorg-Palast in der Weizenbergstraße im Norden der Stadt bringen würde. Er saß neben einem rotblonden jungen Mann mit Glupschaugen und breitem törichtem Grinsen, der dauernd die Worte »zart wie ein Gedicht, hart wie Stahl« wiederholte, wobei er die Buchstaben »t« von einem Regen aus Speicheltröpfchen begleitet hervorstieß. Hinter ihm übten zwei Altistinnen zum letzten Mal die estnische Nationalhymne.
Belknap trug den Anstecker des Empire State Chorus, den auch alle anderen trugen. Er konzentrierte sich darauf, in der Menge unterzugehen, indem er den leicht benommenen, leicht verwirrten Gesichtsausdruck aufsetzte, den sie alle zu haben schienen – von ihrem beim geringsten Anlass angeknipsten Grinsen ganz zu schweigen
Wie ein großer Teil von Estlands Grandeur stammte der Kadriorg-Palast aus dem Nachlass Peters des Großen: russische Großzügigkeit im Gefolge russischer Zwangsherrschaft. Viele der Pavillons waren zu Konzertsälen und Museen umgebaut worden, aber der Hauptteil des Palasts diente als Amtssitz des
Präsidenten und wurde für offizielle Anlässe genutzt – wozu nach Ansicht der Esten ein internationales Sängerfest ganz bestimmt zählte. Das größte Gebäude hatte zwei Etagen – zwei äußerst prunkvolle Etagen, eine barocke Fantasie aus weißen Wandpfeilern auf rotem Stein. Ein Stück weiter hügelaufwärts stand der in ähnlichem Stil, aber etwas schlichter erbaute Präsidentenpalast aus dem Jahr 1938, als für Estland trotz des Dunkels, das große Teile Europas einhüllte, eine neue Morgenröte heraufzudämmern schien. Nach vier Jahren Diktatur versprach eine neu verabschiedete Verfassung, die demokratischen Grundrechte zu garantieren; sie hatte kein Jahr lang Bestand. Ebenso scheiterten alle verzweifelten Bemühungen, die Neutralität baltischer Staaten zu retten. Der Präsidentenpalast bewahrte illusionäre Hoffnungen; vielleicht, überlegte Belknap sich, wirkte er deshalb so attraktiv.
Vor dem Palast war für diesen Abend ein Vorzelt aufgebaut, in dem Sicherheitskontrollen à la Tallinn stattfanden. Er sah Calvin Garth mit einem Wachmann in blauer Uniform konferieren und dabei mit ihrem Einladungsschreiben wedeln. Daraufhin wurden die Chorsänger durchgewinkt. Belknap achtete darauf, dass sein Anstecker deutlich sichtbar war, als er in der Menge mitschwamm. Obwohl er über ein Jahrzehnt älter war als jedes echte Chormitglied, setzte er ein leicht verwirrtes Grinsen auf und wurde nicht angehalten, um außer der Reihe kontrolliert zu werden.
Das Foyer war üppig mit reicher Stuckarbeit und Gipsverzierungen geschmückt, die schon beinahe Plastiken waren. Er wechselte Blicke mit den jungen Männern und Frauen des Chors und gab vor, ebenso ehrfürchtig zu staunen wie sie. Im Bankettsaal, in dem der Empfang stattfand, herrschte zu seiner Erleichterung bereits Gedränge. Jetzt trat er an eine Wand und tat so, als bewundere er ein Porträt Katharinas der Großen, während er den Anstecker aus seinem Revers zog. Dies war der knifflige Part:
Nachdem er als eine Person hereingekommen war, musste er sich blitzschnell in eine andere verwandeln.
Aber nicht einfach in eine x-beliebige. Er war jetzt Roger Delamain von Grinnell International. Er ersetzte das dümmliche Grinsen auf seinem Gesicht durch einen leicht hochnäsig misstrauischen Ausdruck und sah sich rasch um. Obwohl er sich die Gesichter der wichtigsten estnischen Minister eingeprägt hatte, würde er trotzdem improvisieren müssen. Der Präsident war leicht zu erkennen: Mit buschigen Augenbrauen und silberweißer Mähne war er genau der Typ eines rein repräsentativen Staatsoberhaupts – ein gebildeter Mann mit der Gabe, volltönende Phrasen zu drechseln. Er schüttelte mit geübtem Lächeln unzählige Hände, aber seine wahre Geschicklichkeit lag darin, das sah Belknap jetzt, sie rasch wieder loszulassen – der Mann musste sich von einem Gast abwenden, um den nächsten begrüßen zu können: rasch, unauffällig, nach einigen Worten, die nicht als Aufforderung zum Dialog missdeutet werden konnten. Belknap schob sich näher heran. Drängende Fragen wurden scherzhaft aufgefasst und mit anerkennendem Lachen quittiert, wenn ihr Tonfall nicht zeigte, dass sie so ernst waren, dass der Präsident sie sich gewiss zu Herzen nehmen würde. Händedruck, Blickkontakt, Verabschiedung. Händedruck, Blickkontakt, Verabschiedung. Der Mann war ein Virtuose; das estnische Parlament hatte ihn völlig zu Recht in sein hohes Amt
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