Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
und noch viel mehr. Alles landete zuletzt hier, wurde katalogisiert und in solchen Einrichtungen aufbewahrt: auf den Friedhöfen des Informationszeitalters.
Sie fühlte trübe Niedergeschlagenheit auf sich herabsinken, was an der schwachen Beleuchtung oder einer merkwürdigen Interaktion zwischen den sonst gegensätzlichen Ängsten Agoraphobie und Klaustrophobie liegen mochte – dem Gefühl, in weiter Leere eingesperrt zu sein. Sieh zu, dass du’s hinter dich bringst!, ermahnte sie sich selbst. Sie war jetzt auf einem scheinbar endlosen betonierten Korridor unterwegs und folgte einem weißen Mittelstrich mit rätselhaften Kombinationen aus Buchstaben und Ziffern in hellblauer Schablonenschrift: 3L2:566-999. Der Besucherausweis um ihren Hals kündigte lautlos ihr Kommen an, indem er die Deckenbeleuchtung einschaltete; der eingebaute Chip musste ein Funksignal steuern, das immer wieder neue Lichtfelder aufflammen ließ. Die Luft war eigentümlich staubfrei und kühler, als Andrea erwartet hatte, sodass sie schon bedauerte, keinen Pullover mitgebracht zu haben. Überall um sie herum standen riesige Stahlregale, die bis zu der viereinviertel Meter hohen Decke aufragten; an jedem Ende der zwei Meter langen Regalsegmente standen kleine Klappleitern bereit. Tatsächlich war hier unten alles für Klammeraffen ausgelegt, fand sie.
Andrea bog um eine Ecke, folgte dem nächsten Korridor und fuhr wieder leicht zusammen, als, von dem Ausweischip gesteuert, weitere Deckenleuchten aufflammten. Sie war über eine Viertelstunde lang zu Fuß unterwegs, bevor sie eine erste Tranche der Papiere entdeckte, die sie suchte. Nachdem sie fündig geworden war, verbrachte sie eine weitere Stunde damit, in den Akten zu blättern, bis sie etwas fand, das seltsam verdächtig wirkte.
Unterlagen über Devisengeschäfte. Damit hätten die meisten Leute nichts anfangen können, aber sie kannte sich damit aus. Hatten Firmen hohe Zahlungen ins Ausland zu leisten, griffen sie oft auf Sicherungsgeschäfte zurück und legten auf Vorrat größere Beträge in Devisen an, um vor Wechselkursschwankungen sicher zu sein. Auch die Bancroft-Stiftung hatte das in unregelmäßigen Abständen getan.
Wieso? Der gewöhnliche Erwerb von Waren, Immobilien oder Dienstleistungen ließ sich über das internationale Bankensystem abwickeln, dem die Großbanken, mit denen die Stiftung zusammenarbeitete, alle angehörten. Diese gehorteten Devisen deuteten auf hohe Barzahlungen hin. Zu welchem Zweck? In der Wirtschaft von heute suggerierten große Barbeträge möglicherweise illegale Aktivitäten. Bestechungsgelder? Oder etwas ganz anderes?
Andrea begann sich wie ein indianischer Fährtensucher zu fühlen. Sie konnte das Waldtier nicht sehen, aber sie konnte ein paar zertretene Zweige und eine seltsame Fährte erkennen und wusste, wo es gewesen war.
Dreißig Meter über ihr gab der Mann mit den tief in den Höhlen liegenden Augen die Ausweisnummer der Frau ein, sodass auf dem Mehrfachbildschirm vor ihm die Bilder der in ihrer Nähe arbeitenden Kameras erschienen. Eines davon vergrößerte er mit ein paar Mausklicks und drehte es dann, um lesen zu können, was auf der aufgeschlagenen Seite stand. Die Bancroft-Stiftung. In diesem Fall wusste er, was er zu tun hatte. Bestimmt keine große Sache. Die Frau gehörte vermutlich zur Familie – schließlich hieß sie ebenfalls Bancroft. Aber er wurde nicht dafür bezahlt, dass er nachdachte. Sein Geld bekam er dafür, dass er sie notfalls warnte. Jo, Kev, dafür gibt’s den Haufen Geld. Okay, vielleicht nicht gerade ein Haufen, aber im Vergleich zu den Almosen von Secure Archive Inc. doch verdammt großzügig. Er nahm den Hörer
ab und wollte die Nummer eintippen. Dann legte er wieder auf. Lieber keine Spuren am Arbeitsplatz hinterlassen. Er zog sein Handy heraus und telefonierte damit.
An diesem Abend bewies Belknaps angebliche Zugehörigkeit zu dem Chor ihren wahren Wert. In der Residenz des Staatspräsidenten würde an diesem Abend ein Empfang zur Eröffnung des internationalen Sängerfests stattfinden. Der Empire State Chorus gehörte zu den Chören, die anschließend ein Benefizkonzert geben würden. Für die wichtigsten estnischen Minister herrschte Anwesenheitspflicht. Was Belknap betraf, konnte er jetzt einen bisher nur nebulös gefassten Plan konkretisieren.
Von Schlafmangel und einem schweren Mahl aus Schweinebraten und Kartoffeln leicht benommen, stieg Belknap als Letzter in den Bus, der den Chor zum
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