Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
nun hoffentlich unsichtbar. Dann schob sie einen der schweren Stahlbehälter zur Seite, um beobachten zu können, was schätzungsweise dreieinhalb Meter unter ihr auf dem Korridor vorging.
Der Mann in paramilitärischer Aufmachung traf als Erster ein. Sie war nirgends zu sehen. Er flitzte in die benachbarten Gänge, kam aber sofort in den beleuchteten Sektor zurück. Sichtlich frustriert suchten seine Augen die Regale nach Andrea oder ihrem Besucherausweis ab. Dann sprach er in sein Handfunkgerät.
»Die Schlampe hat ihren Ausweis weggeworfen«, meldete er mit heiserer Stimme. »Eine verdammt riskante Strategie. Hat Theta schon genehmigt, dass wir sie umlegen?«
Während er sprach, ging er auf dem Korridor der Reihe P weiter und näherte sich so Andrea. Jetzt kam alles auf den richtigen Augenblick an. Sie hielt den schweren Stahlbehälter in beiden Händen, wartete darauf, dass die schemenhafte Gestalt den Punkt erreichte, den sie unter sich auf dem Betonboden anvisierte, und – jetzt! – ließ ihn fallen.
Sie hörte einen ersticken Aufschrei, spähte nach unten und sah den Mann neben dem Stahlbehälter, der seine ganze rechte Kopfseite eingedrückt hatte, ausgestreckt auf dem Boden liegen.
O Gott, was hast du getan, Andrea? Jesus!
Eine Woge aus Abscheu und Widerwillen durchflutete sie. Dies war nicht ihre Welt. Dies war nicht, was sie tat, wer sie war.
Aber wenn die Angreifer glaubten, sie werde nicht mit aller Kraft Widerstand leisten, hatten sie Andrea Bancroft gewaltig unterschätzt. Ist schon genehmigt, dass wir sie umlegen? Diese Worte ließen sie wie ein Eishauch erbeben.
Ihr Herz schien jetzt zornig zu hämmern. Nein, Arschloch, aber ich brauche keine Genehmigung.
Sie schwang sich hinunter wie ein Kind an einem Klettergerüst und kniete neben dem Toten nieder. Am Koppel trug er eine Schusswaffe. Sie hatte flache Seiten und keine Trommel, war also vermutlich eine Pistole. Andrea griff danach und begutachtete sie im reflektierten Licht der Leuchtstoffröhren im nächsten Sektor.
Sie hatte noch niemals eine Pistole in der Hand gehalten. Aber wie schwierig konnte das sein? Sie wusste, wo die Mündung war, was immerhin ein Anfang war. Von Musikvideos wusste sie, dass Rapper ihre Waffen gern seitlich hielten, konnte sich aber nicht vorstellen, wie das die Schussbahn beeinflussen sollte. Und sie hatte genügend Filme gesehen, in denen eine Waffe versagte, weil jemand nicht wusste, dass sie erst entsichert werden musste. War diese Pistole gesichert? War sie überhaupt geladen?
Verdammt. Das Ding hatte keine auf den Griff gedruckte Gebrauchsanweisung, und Andrea hätte ohnehin keine Zeit gehabt, sie zu lesen. Tatsächlich hatte sie keine Ahnung, was passieren würde, wenn sie den Abzug betätigte. Vielleicht gar nichts. Vielleicht musste die Waffe gespannt werden oder dergleichen. Aber vielleicht hatte der Kerl sie auch schussbereit durchgeladen am Koppel getragen.
Beides war denkbar. Wahrscheinlich würde die Pistole ihr mehr schaden als nützen. Der Kerl mit dem Integralhelm würde hören, wie sie den Abzug durchriss, aber dann würde nichts passieren, und er würde sie erledigen. Sie hastete ans Ende der
Regalreihe und beobachtete ängstlich, wie der Mann mit Helm auf dem Elektrokarren herangerast kam.
Dann überraschte der Mann sie, indem er hielt, von seinem Karren sprang, hinter einem Stützpfeiler verschwand und … wo ist er?
Eine halbe Minute verging, ohne dass er sich wieder blicken ließ. Andrea hockte zusammengekauert in einem Regalfach, machte sich so klein wie möglich und horchte einfach nur.
Dann hörte sie ihn und drehte langsam den Kopf zur Seite. Ihre Magennerven verkrampften sich: Der Mann hatte sie entdeckt und ging langsam auf sie zu. Andrea verharrte stocksteif und kam sich wie ein Frosch vor, der nicht weiß, dass er gesehen worden ist.
»Komm zu Papa«, sagte der Mann, langsam näher kommend. In einer Hand hielt ein schwarzes Kunststoffding mit zwei Elektroden, zwischen denen knisternd Elektrizität übersprang. Ein Taser, ein Elektroschocker. Er warf Andrea Plastikhandschellen zu. »Hier, du kannst sie selbst anlegen. Dann hast du’s leichter.«
Andrea bewegte sich noch immer nicht.
»Ich kann dich sehen, weißt du«, sagte der Mann fast neckend. »Außer uns ist hier unten niemand. Bloß du und ich. Und ich hab’s nicht besonders eilig.« Der Lichtbogen des Tasers knisterte, als er näher herankam. Mit der anderen Hand löste er seinen Ledergürtel, begann sich im
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