Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
ihm, dass zumindest ein Schuss getroffen hatte. Der Mann keuchte jetzt wie ein waidwundes Tier, und pfeifende Laute zeigten Belknap, dass Luft durch das Einschussloch in seinen Brustraum eindrang und die Lunge zusammenfallen ließ.
Setzte man voraus, dass die beiden überlebenden Wachleute geflüchtet waren, blieb noch Lugner übrig. Er würde gerissener sein als die anderen. Belknap zwang seinen auf Hochtouren arbeitenden Verstand dazu, klar zu denken. Was tätest du an seiner Stelle? Er würde nicht riskieren, übermäßig aggressiv zu sein; stattdessen würde er eine Verteidigungshaltung einnehmen, vielleicht niederkauern, um ein schwierigeres Ziel zu bieten. Er würde versuchen, den Raum zu verlassen und die Tür abzuschließen, damit er – falls die angeblichen Sprengladungen sich als
Schwindel erwiesen – seinen Gegner später in aller Ruhe ausschalten konnte. Er würde anfangen, lautlos in Richtung Tür zu kriechen, war vielleicht schon dorthin unterwegs. Und er würde versuchen, den Gegner in Bezug auf seine Absichten zu täuschen.
Sekunden vergingen wie Stunden. Belknap hörte links von sich ein Geräusch und war versucht, sich in diese Richtung herumzuwerfen und zu schießen. Aber nein, das war nicht das Geräusch eines Mannes; Lugner hatte wahrscheinlich nur ein Blatt Papier zusammengeknüllt und durch den Raum geworfen, um ihn abzulenken, während er …
Belknap stand abrupt auf und schoss, ohne richtig hinzusehen, ohne auch nur zu zielen in Richtung Tür – sehr tief, als versuche er, eine flüchtende Katze zu treffen. Dann verschwand er wieder hinter dem Stahlschrank und erinnerte sich daran, was er gesehen hatte. Er hatte recht gehabt: Lugner war genau dort gewesen, wo er ihn vermutet hatte! Aber hatte er ihn auch getroffen? Er hatte keinen Aufschrei, nicht einmal ein Stöhnen gehört.
Nach sekundenlangem Schweigen sprach Lugner mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Sie sind ein törichter Spieler. Gegen die Bank kommt keiner an.«
Das war die Stimme eines Mannes, der die Situation völlig unter Kontrolle hatte. Aber weshalb hätte er seinen Standort verraten sollen? Belknap begann zu ahnen, was vermutlich dahintersteckte. Lugners Stimme war allzu ruhig, zu gelassen. Er war verwundet, vielleicht sogar tödlich. Daher versuchte er jetzt einfach, seinen Gegner aus der Deckung zu locken. Belknap hörte, wie Lugner einen Schritt machte, dann noch einen. Langsame, schwere Schritte, die Schritte eines Sterbenden. Eines Sterbenden mit schussbereiter Waffe.
Er setzte seine schwarze Strickmütze aufs Ende des aufgeklappten Metermaßes und schob sie damit etwas über den oberen Schrankrand hoch. Das war ein uralter Trick – die Feldmütze
oder der Stahlhelm auf einem Stock –, um das Feuer eines Scharfschützen anzulocken.
Lugner war zu clever, um darauf reinzufallen – eine Tatsache, mit der Belknap rechnete. Er würde von ihm aus gesehen nach links zielen, weil er eine schnelle Rolle erwartete. Stattdessen schnellte Belknap sich wie ein Schachtelteufel hoch und tauchte für einen Augenblick über der Stelle auf, an der eben noch sein primitiver Köder zu sehen gewesen war. Lugners Pistole zielte wie erwartet nach links unten. Belknap betätigte den Abzug der Wector SR-1. Er sah über Lugners finstere, sadistische Miene einen vertrauten Ausdruck huschen. Er kündete von etwas, das der Einzelkämpfer Belknap oft hervorrief, aber nur selten selbst empfand: Entsetzen.
»Ich bin die Bank«, sagte Belknap.
»Zum Teufel mit …«
Der erste Schuss traf Lugners Kehle, ließ seinen Kehlkopf explodieren und schnitt seine letzten Worte ab. Das Geschoss durchschlug mühelos seinen Hals und die mit einer Stahlplatte verstärkte Tür hinter ihm, während seine Schockwellen alles Fleisch in der Umgebung des Einschusslochs zerstörten. Verspritztes arterielles Blut bildete die Umrisse seines Körpers auf dem weiß lackierten Türblatt ab. Der zweite, etwas höher gezielte Schuss traf sein Gesicht, drang knapp unter der Nase ein und schickte unsichtbare Druckwellen durch Kleinhirn und Rückenmark, die dadurch verflüssigt wurden. Die Wirkung dieses »hydrostatischen Schocks«, wie der Fachausdruck lautete, auf das Zentralnervensystem trat augenblicklich ein und bedeutete das Finale.
Zehn Minuten später war Todd Belknap auf dem Gehsteig in beschleunigtem Gehtempo durch die estnische Nacht unterwegs. Er war in der Hoffnung nach Tallinn gekommen, hier die Unsicherheiten, die Unbekannten reduzieren zu
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