Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
dem Boss näher zu sein.
Drakulovics Zuverlässigkeit stand jetzt im Zweifel; da wollte keiner mit ihm in Verbindung gebracht werden, bis dieser Verdacht aufgeklärt und wieder klare Verhältnisse geschaffen waren.
Der blonde Junge protestierte weiter, bis der erste Wachmann ihm mit ein paar groben Worten über den Mund fuhr und ihn zum Schweigen brachte. Auch diesmal konnte Belknap sich denken, was gesagt worden war: »Kein Wort mehr, verstanden? Wir reden später miteinander.«
Jetzt reckte Belknap die Nase noch etwas höher. Es wurde Zeit, einen weiteren Namen zu erwähnen, noch mehr Verwirrung zu säen. »Euer Aufmarsch wird Lanham nicht gerade begeistern, Jungs. Dies ist das letzte Mal, dass ich ihm einen Gefallen tue.«
In die schwarzen Augen des Uniformierten trat ein wachsamer Ausdruck. »Von wem reden Sie da?«
Belknap holte tief Luft, hielt kurz den Atem an, während sein Verstand fieberhaft arbeitete.
R. S. Lanham. Ein Amerikaner, hatte Andrus Pärt gesagt. Das »R« konnte Ronald, Richard, Rory, Ralph bedeuten. Am ehesten jedoch Robert, der zu den häufigsten amerikanischen Vornamen gehörte. Ein Robert konnte sich Rob, Bob oder Bert nennen lassen – oder auf jegliche Verkleinerungsform verzichten. Hätte man darauf wetten wollen, wäre Bob am sichersten gewesen.
»Glauben Sie mir«, sagte Belknap, »wenn Sie Bob Lanham so gut kennen würden wie ich, würden Sie wissen, dass man ihn lieber nicht gegen sich aufbringen sollte.«
Der Wachmann musterte ihn prüfend. Dann schaltete er sein Handfunkgerät ein, sprach kurz hinein. »Der Boss ist unterwegs.«
Der Boss. Nicht Nikos Stavros. Also der zweite Besitzer, dem etwas über die Hälfte der Firma gehörte. Der Mann, der sich Lanham nannte.
Andrus Pärt: »Dies ist niemand, dem ich je begegnet bin. Das würde ich auch gar nicht wollen.«
Der Anführer sprach jetzt leise, beruhigend auf den blonden Jungen ein. Zwischendurch sah er mehrmals zu Belknap hinüber. Sie trauten ihm nicht. Trotzdem ließ der Mann mit den scharfen Zügen sich Drakulovic’ Pistole aushändigen und steckte sie ein. Der Junge war vorläufig auf Bewährung gesetzt. Das war die einzig vernünftige Lösung. Drakulovic ließ sich in einer Ecke des Büros auf einem kleinen Hocker nieder: Er atmete schwer und hätte am liebsten weiterprotestiert, war aber vorläufig des Feldes verwiesen.
Belknap sah sich um, beobachtete die anderen drei Wachmänner, stellte fest, dass sie ihre Pistolen ganz ruhig hielten, und erkannte in ihren Mienen nur professionelle Gelassenheit. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, sein Blick irrlichterte durch den Raum. Du musst hier raus! Es musste irgendetwas geben, das er tun konnte.
Wieder Schritte auf dem Korridor. Der Boss . Eine Stimme sprach flüssiges Estnisch – aber mit amerikanischem Akzent, bildete Belknap sich ein.
Dann wurde die Eingangstür nochmals aufgestoßen, und der Chef der Firma Estotek kam, von zwei jungen blonden Leibwächtern begleitet, herein.
Sein Haar war blauschwarz gefärbt, im Licht der Deckenbeleuchtung glänzend. Das Gesicht war so stark pockennarbig, dass alle Hautkrater mit Schatten ausgefüllt zu sein schienen. Seine pechschwarzen Augen funkelten bösartig stechend. Der Mund war schmallippig und grausam wie eine gut verheilte Messerwunde.
Belknap merkte, dass er wie gebannt die fünf Zentimeter lange Narbe anstarrte, die sich wie eine zweite linke Augenbraue über die Stirn des Mannes zog. Der Boden unter seinen Füßen schien wie bei einem starken Erdbeben wellenförmig zu schwanken. Er fühlte sich schwindlig. Anscheinend litt er unter Halluzinationen.
Er kniff krampfhaft die Augen zusammen, dann öffnete er sie wieder. Das ist unmöglich .
Und doch war es möglich. Der rätselhafte estnische Großindustrielle, der das ehemalige Ansari-Netzwerk übernommen hatte, war für ihn kein Unbekannter. Sie waren sich vor vielen Jahren in seiner Wohnung in der Ostberliner Karl-Marx-Allee begegnet.
Vor Belknaps innerem Auge stiegen quälende Erinnerungen auf. Der Orientteppich auf dem Fußboden. Der Spiegel mit dem Ebenholzrahmen, der große Biedermeierschreibtisch. Die Mündungen der doppelläufigen Schrotflinte des Mannes, sein stechender Blick.
Richard Lugner.
Der Mann, der an jenem Tag erschossen worden war. Belknap hatte ihn mit eigenen Augen sterben gesehen. Trotzdem stand er jetzt hier vor ihm.
»Das kann nicht sein!«, stieß Belknap hervor, als er endlich Worte fand, um auszudrücken, was er dachte.
Das
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