Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
er im oberen Drittel des zentralen Hotelturms vor Zimmer 1450. Er horchte an der Tür, aber dahinter war nichts zu hören. Das Palace war ein gut entworfenes Gebäude, das aus besten Materialien erbaut war. Er steckte die Karte in den Schlitz, sah das grüne Blinklicht und drehte den Türknopf nach links. Hinter dieser Tür würde er Lucia Zingaretti finden: seinen Ariadnefaden. Halt durch, Jared, sagte er im Stillen. Ich bin unterwegs .
NEW YORK
Andrea Bancroft wollte ihren Schreibtisch bei der Coventry Equity Group ausräumen, aber als sie dort saß, überlegte sie sich die Sache anders. Die Ressourcen der Firma konnten ihr nützlich sein. Ihre Kollegen bedauerten ihren Weggang; sie würden ihr kaum das Recht missgönnen, den letzten Arbeitstag so zu verbringen, wie sie wollte.
Dazu kam, dass sie immer wieder daran dachte, was ihr namenloser Besucher gesagt hatte: Sie sehen Ihrer Mutter sehr ähnlich . Was hatte das zu bedeuten? Ließ ihr Misstrauen sie allmählich durchdrehen? Vielleicht war das eine verspätete Trauerreaktion auf den Tod ihrer Mutter, vielleicht auf die erschreckende Abruptheit, mit der die Bancroft-Stiftung ihr Leben umgekrempelt hatte … Aber nein, sie war nicht hysterisch. Das passte nicht zum Wesen ihrer Person. Allerdings wusste sie kaum noch, was für eine Person sie eigentlich war.
Du bist ein Profi. Tu einfach, wofür du ausgebildet bist. Die Stiftung war letztlich ein Unternehmen – eine gemeinnützige Organisation –, und Andrea hatte Erfahrung darin, Unternehmen auf den Prüfstand zu stellen, sie zu durchleuchten, die Aussagen in ihren Hochglanzbroschüren und Pressemitteilungen zu hinterfragen. Wieso sollte sie sich nicht einfach die Bancroft-Stiftung genauer ansehen?
Über das vernetzte Terminal auf ihrem Schreibtisch fragte sie nacheinander mehrere nicht ohne weiteres zugängliche Datenbanken ab. Eine in den Vereinigten Staaten zugelassene Wohltätigkeitsorganisation – sogar eine private Stiftung wie die Bancroft-Stiftung – musste allen möglichen Vorschriften genügen; zu den durch Bundesgesetz geforderten Pflichtangaben gehörten beispielsweise ihre Statuten, die Geschäftsordnung und die Personenkennziffern bestimmter Führungskräfte.
Nachdem Andrea zwei Stunden lang digitalisierte Schriftstücke gesichtet hatte, wusste sie, dass die Stiftung – wenigstens auf dem Papier – ein Konglomerat aus rechtsfähigen Einzelorganisationen war. Es gab die Bancroft Estates, den Bancroft Philanthropic Trust, den Bancroft Family Trust und so weiter. Gewaltige Geldbeträge schienen durch sie hin und her zu schwappen wie Wasser durch ein System kommunizierender Röhren.
Um sich herum sah Andrea ihre Kollegen – ihre ehemaligen Kollegen, verbesserte sie sich – an ihren Terminals arbeiten. Sie
wirkten auf eine Art und Weise drohnenhaft, die ihr noch nie aufgefallen war: Sie saßen an Schreibtischen, tippten auf Tastaturen, sprachen in Telefone … erledigten Hunderte von Aufgaben mit nur drei oder vier Grundbewegungen, die den ganzen Tag lang wiederholt wurden.
Worin unterscheide ich mich von ihnen?, dachte sie. Ich tue nichts anderes. Aus ihrem Innern heraus erschien es anders, das war alles. Alles kam einem anders vor, wenn man wusste, dass man etwas wirklich Wichtiges tat.
Ihr Telefon summte, riss sie aus ihren Gedanken.
»He, Girl!« Brent Farleys weicher Bariton war auf seine schmeichlerischste Stimmlage eingestellt. »Ich bin’s.«
Andreas Stimme war knochentrocken. »Was kann ich für dich tun?«
»Hast du einen Augenblick Zeit?«, fragte er leichthin. »Hör zu, ich wollte bloß sagen, dass es mir leid tut, wie wir auseinandergegangen sind. Wir müssen miteinander reden, okay?«
»Und was gäbe es zu besprechen?« Den Permafrost-Tonfall einer Chefsekretärin beizubehalten kostete sie erstaunlich wenig Mühe..
»He, sei doch nicht so, Andrea. Pass auf, ich habe zwei Karten für …«
»Ich bin nur neugierig«, unterbrach sie ihn. »Wieso rufst du mich aus heiterem Himmel an? Warum gerade jetzt?«
Er geriet ins Stottern. »W-warum ich anrufe? Ohne besonderen Grund«, log er. Nun wusste sie endgültig Bescheid: Die Nachricht war ihm zu Ohren gekommen. »Ich dachte bloß, wie ich gesagt habe, ich finde nur, wir müssten miteinander reden. Vielleicht einen Neuanfang wagen. Aber unabhängig davon, wie’s letztlich ausgeht, müssen wir wirklich miteinander reden.«
Weil das »kleinkarierte« Mädchen plötzlich mehr Geld hat, als du jemals verdienen
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