Die Bank
ihr folgen soll. Die anderen Möglichkeiten wären, sich direkt auf den Wachmann zu stürzen, unter den Vorhang zu springen und an den fünfhundert Zuschauern vorbeizustürmen oder den Weg zurückzugehen, den wir gekommen sind. Ich laufe an Charlie vorbei und zerre ihn mit. Er weiß, wann er keine Wahl hat. Wir folgen beide Gillian.
Sie führt uns durch die Nebentür in einen Raum mit einem rotem Teppich, in dem falsche antike Möbel und nachgemachte Flaggen aus Amerikas Kolonialzeit hängen. Charlie packt einen Schaukelstuhl und klemmt ihn unter die Tür, durch die wir gekommen sind. Der Wachmann hämmert und schreit, aber das bringt ihn keinen Schritt weiter.
Auf der anderen Seite warten drei Türen auf uns. Unter den beiden rechts scheint kein Licht durch den Schlitz. Sie führen zurück in das Theater. Unter der Tür direkt vor uns glimmt das letzte Sonnenlicht. Das ist die Tür nach draußen.
Gillian stößt sie auf, und die plötzliche Ausdehnung des Raums überwältigt uns beinahe. Nach den grauen Wänden der Katakomben und der Dunkelheit in der Halle der Präsidenten blinzle ich in die helle Weite des Liberty Square durch Disneys nachgemachte Stadt aus der Revolutionszeit.
»Folge den Leuten«, sagt Charlie und deutet auf die Menschenmenge, die durch die Straßen flaniert. Links von mir warten etliche Kinder darauf, ihren Kopf durch eine falsche Palisade zu stecken, damit ihre Eltern einen Schnappschuß machen können. Rechts von mir stehen Hunderte von Touristen Schlange für die sicherste Schaufelraddampferfahrt der Welt. Alle anderen sind auf der Straße. Tausende strömen zu der alten Grenzstadt des Wilden Westens. In Disney World ist es eine Woche vor Weihnachten. Unterzutauchen dürfte da ein Kinderspiel sein.
»Laß es langsam angehen«, schärft mir Gillian ein, als wir uns zwischen die Menschen mischen, die sich vor dem Diamond Horseshoe Saloon drängeln. Sie senkt den Kopf und paßt sich den Schritten der Menge an. Charlie will sich nicht einfügen und eilt voraus.
»Charlie, warte!« rufe ich ihm nach.
Er dreht sich nicht einmal um. Ich verfolge ihn, aber er hat schon vier Familien Vorsprung. Ich springe hoch, um besser sehen zu können, und erkenne seinen Blondschopf, der sich durch die Menge fortbewegt. Aber je mehr ich versuche, ihn einzuholen, desto weiter fällt Gillian zurück. Ich bin zwischen beiden hin- und hergerissen und versuche mein Bestes, gleichen Abstand zwischen beiden zu halten, doch irgendwann muß ich einen von ihnen aufgeben.
Ich sehe mich nach Gillian um, die endlich etwas schneller läuft. »Komm schon!« rufe ich ihr zu und winke sie weiter. Dann winde ich mich an einer sechsköpfigen Familie vorbei und werde schneller. Aber als ich wieder hochspringe und Charlie suche, ist er nirgendwo zu sehen. Ich verrenke mir fast den Hals und suche die Menge nach seinem blonden Haar ab. Er ist nicht da. Ich springe wieder hoch. Nichts. Gleichgültig, wie wütend er ist. Er würde niemals ohne mich verschwinden.
Ich habe wieder diesen Krampf im Bauch wie damals, als wir uns verloren hatten. »Entschuldigen Sie … Darf ich bitte durch …!« rufe ich, während ich mich zwischen den Leuten hindurchdränge. Während Gillian aufholt, suche ich im Meer der Köpfe nach Charlie. Irgendwo muß er doch stecken. Auf der anderen Seite der Straße schießt ein Zehnjähriger seiner Schwester mit einer Korkpistole mitten ins Gesicht. Hinter mir jagen sich zwei Kinder, deren Zungen rot sind von Zuckerwatte. Neben mir weint ein Junge, und sein Vater droht ihm, ihn sofort nach Hause zu bringen. Aus den Lautsprechern an den Laternenpfählen plärrt der Yankee Doodle. Ich kann kaum noch logisch denken. Gillian will nach meiner Hand greifen, aber ich schüttele sie ab. Vor uns biegt die Straße nach links ein. Ich versuche es noch einmal.
»Charlie!« rufe ich.
Plötzlich taucht vor mir am Kiosk für Waschbärmützen ein vertrauter blonder Haarschopf auf.
»Charlie!« schreie ich und fuchtele mit beiden Händen über dem Kopf.
Runter! bedeutet er mir mit zur Erde gekehrten Handflächen.
Was hast du …?
Runter! Sofort!
Er schaut an mir vorbei über die Straße, und ich folge seinem Blick über die Menge. Da sehe ich die beiden dunklen Anzüge, die auf uns zukommen. Und dann sehen sie mich ebenfalls.
Gallo wirft mir einen düsteren Blick zu. Er schiebt ein junges Pärchen rücksichtslos zur Seite und stürzt sich in die Menge. DeSanctis folgt ihm auf dem Fuß.
76. Kapitel
»Du mußtest
Weitere Kostenlose Bücher