Die Bank
Vergnügen.«
»Aber du bist mein Sohn …«
»Und du bist meine Mom.«
Dagegen kann sie schwer etwas einwenden. Außerdem, wenn sie die Hilfe nicht brauchen würde, hätte sie die Rechnungen irgendwo aufbewahrt, wo ich sie nicht finden könnte, und wir würden Hühnchen essen statt Auflauf. Ihre Lippen zittern etwas, und sie kaut nervös an dem Heftpflaster auf ihren Fingerspitzen. Das Leben einer Näherin … Zu viele Nadeln und zu viele Säume. Wir haben zwar immer von einem Gehaltsscheck zum nächsten gelebt, aber die Falten in ihrem Gesicht zeigen allmählich ihr Alter. Ohne ein Wort öffnet sie das Küchenfenster und beugt sich in die Kälte hinaus.
Ich dachte erst, daß sie Mrs. Finkelstein entdeckt hat, Moms beste Freundin und unsere alte Babysitterin. Deren Fenster liegt direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Aber als ich das vertraute Knarren der Wäscheleine höre, die wir zur Finkelstein gespannt haben, ist mir klar, daß Mom den Rest ihrer heutigen Arbeit erledigt. Hier habe ich gelernt, wie man sich in seinem Job verlieren kann. Als sie fertig ist, tritt sie an die Spüle und wäscht den Holzlöffel ab.
Kaum ist er sauber, nimmt Charlie ihn ihr weg und drückt ihn erneut gegen seine Zunge. »Aaaaaaa«, summt er dabei. Auch wenn meine Mutter sich noch so sträubt, sie muß schließlich lachen. Ende der Diskussion.
Ich blättere eine Rechnung nach der anderen durch, addiere sie und versuche zu entscheiden, welche wir sofort bezahlen müssen. Manchmal begleiche ich nur die Kreditkarten- und die Krankenhausrechnungen, aber wenn zum Beispiel die Heizkosten im Winter steigen, übernehme ich auch die Nebenkosten. Charlie bezahlt immer die Krankenversicherung; das ist seine ganz persönliche Angelegenheit.
»Wie war die Arbeit?« Mom schaut meinen Bruder an.
Er ignoriert die Frage, und sie läßt es ihm durchgehen. Die gleiche tolerante Haltung hat sie auch vor zwei Jahren an den Tag gelegt, als Charlie für einen Monat zum Buddhismus übertrat. Und dann vor anderthalb Jahren, als er sich dem Hinduismus zuwandte. Manchmal kennt sie uns besser als wir uns selbst.
Während ich die Kreditkartenrechnung überfliege, schaltet sich mein Banker-Instinkt ein. Kontrolliere die Gebühren, schütze den Klienten, halte Ausschau nach Unregelmäßigkeiten. Lebensmittel … Nähmaterial … Musikladen … Vic Winicks Tanzstudio?
»Wer ist dieser Vic Winick?« frage ich und drehe meinen Stuhl zur Küche.
»Er gibt Tanzstunden«, antwortet meine Mutter.
»Tanzstunden? Mit wem nimmst du Tanzstunden?«
»Darf ich bitten!« ruft Charlie mit seinem besten französischen Akzent. Er klemmt sich den Holzlöffel wie eine Blume zwischen die Zähne, schnappt sich meine Mutter und zieht sie an sich. »Und eins, und zwei … jetzt den rechten Fuß …« Sie fallen in einen schnellen Tanzschritt und hüpfen in der kleinen Küche herum.
Charlie verdreht den Hals und läßt den Löffel in die Spüle fallen. »Nicht schlecht, was?« fragt er.
»Wie sehen wir aus?« erkundigt sich Mom, als sie gegen den Ofen stoßen und beinahe den Soßentopf zu Boden werfen.
»Großartig, einfach … großartig«, sage ich. Mein Blick gleitet wieder zu den Rechnungen zurück. Ich weiß nicht, warum es mich überrascht. Mir gehörten immer ihr Kopf und ihre Brieftasche, aber Charlie … Charlie gehörte schon immer ihr Herz.
»Du siehst gut aus, süße Mammi!« Mein Bruder fuchtelt mit der Hand durch die Luft. »Du wirst heute abend gut schlafen!«
Ich bin diesen Weg schon tausendmal gegangen. Raus aus der überhitzten U-Bahn, die immer schmutzigen Stufen hinauf, im Slalom durch die frisch geduschten Leute und die Park Avenue entlang, bis ich die Bank erreiche. Über tausendmal. Das sind vier Jahre, ohne die Wochenenden mitzurechnen, an denen ich auch gearbeitet habe. Aber heute … Ich zähle die Tage, die ich hier verbracht habe. Von jetzt an ist es ein Countdown, bis wir verschwinden. Meiner Meinung nach sollte Charlie als erster gehen. In etwa ein oder zwei Monaten. Wenn danach wieder alles unverdächtig ist, müssen Shep und ich eine Münze werfen. Vielleicht will er sogar bleiben. Mir persönlich stellt sich diese Überlegung nicht.
Während ich über die Park Avenue bis zur 36th Street schlendere, male ich mir das Gespräch schon in den leuchtendsten Farben aus. »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich der Meinung bin, es wäre an der Zeit, mich beruflich zu verändern«, werde ich zu Lapidus sagen. Es ist nicht nötig,
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