Die Bank
sieht mich finster an. »Hältst du mich wirklich für so blöd?«
»Wenn ich darüber nachdenke, was du …«
»Ich habe ihm gar nichts gesagt«, flüstert Charlie grollend. »Er hat nicht die geringste Ahnung, wo es ist.«
Ich warte, während die Subway kreischend in Grand Street einfährt. Es ist die letzte Haltestelle in Manhattan. Als die Türen aufgehen, fluten Dutzende von gebeugten Chinesen in den Waggon. Sie haben rosafarbene Einkaufstaschen dabei, die nach frischem Fisch riechen. Ab nach Chinatown zum Einkaufen, und dann wieder ab in die Subway und zurück nach Brooklyn. »Was redest du da?« frage ich.
»Als ich ihm das rote Blatt vor die Nase gehalten habe … habe ich ihm die falsche Bank gezeigt. Und zwar mit Absicht, Ollie.« Er tritt näher an mich heran und fährt fort: »Ich habe ihm irgendeine Bank in Antigua genannt, wohin wir nicht das geringste überwiesen haben. Nicht mal einen einzigen Cent. Das beste war natürlich, daß du so schön ausgeflippt bist. Deshalb hat er jedes Wort geglaubt.« Ich brauche eine Sekunde, bis ich kapiere. »Krieg jetzt bloß keinen Gehirnschlag, Oliver. Ich würde nie zulassen, daß jemand sich unser Geld unter den Nagel reißt.«
Mit einem kurzen Ruck reißt er an der Tür zwischen den beiden Waggons. Sie ist verschlossen. Verärgert geht er um mich herum und marschiert denselben Weg zurück, den wir gekommen sind. Bevor ich etwas sagen kann, fährt der Zug wieder an … Und mein Bruder ist in der Menge verschwunden.
»Charlie!« rufe ich ihm nach. »Du bist ein Genie!«
»Ich verstehe immer noch nicht ganz, wann du das geplant hast«, sage ich, als wir über den rissigen Zement auf dem Bürgersteig der Avenue U in Sheepshead Bay, Brooklyn, gehen.
»Hab ich auch nicht«, räumt Charlie ein. »Es ist mir erst eingefallen, als ich das rote Blatt zusammengefaltet habe.«
»Willst du mich veralbern?« Ich lache. »O Mann, er wird nie begreifen, wie ihm geschehen ist.«
Ich warte darauf, daß mein Bruder ebenfalls lacht, aber das tut er nicht. Er schweigt einfach nur.
»Was?« frage ich. »Darf ich nicht froh darüber sein, daß das Geld in Sicherheit ist? Ich bin lediglich erleichtert, daß du …«
»Hast du dir eigentlich schon mal selbst zugehört, Oliver? Du hast den ganzen Tag herumgejammert, daß wir die Sache ja cool durchziehen sollen. Und kaum sage ich dir, daß ich Shep geleimt habe, benimmst du dich wie ein Kerl, der die beiden letzten Zeppelintickets erwischt hat.«
Während wir den Block entlanggehen, betrachte ich die Geschäfte, welche die Avenue U säumen. Pizza-Paläste, Zigarrenläden, Billigschuhe, ein am Existenzminimum vegetierender Frisörladen. Bis auf den Pizzaladen haben alle bereits geschlossen. Als wir klein waren, hieß Feierabend, die Besitzer löschten das Licht und schlossen ab. Heute bedeutet es, sie lassen ihre stahlverstärkten Rolläden herunter, die wie metallene Garagentore aussehen. Ohne Zweifel geht es auch mit dem Vertrauen allmählich abwärts.
»Komm schon, Charlie … Ich weiß, daß du dich gern um jeden herrenlosen Streuner kümmerst, aber du kennst diesen Kerl doch kaum …«
»Das spielt keine Rolle«, unterbricht mich Charlie. »Wir haben ihn trotzdem ausgetrickst und ihm das Messer ins Kreuz gerammt!« Als wir uns der Ecke unseres Wohnblocks nähern, breitet er die Arme aus und streicht mit den Fingerspitzen über die Metallrolläden, die das Antiquariat schützen. »Verdammt!« ruft Charlie und schlägt mit voller Wucht gegen das Metall. »Er hat uns doch tatsächlich zugetraut, daß wir …« Er unterbricht sich. »Genau das ist es, was ich an Geld so hasse …«
Er biegt scharf rechts in die Bedford Avenue ein, und die Garagentore weichen einem langweiligen sechsstöckigen Mietshaus aus den fünfziger Jahren.
»Ich sehe ein paar gutaussehende Jungs!« ruft eine weibliche Stimme von einem Fenster aus dem vierten Stock. Ich muß nicht hochsehen, um zu wissen, wem die Stimme gehört.
»Danke, Mom!« sage ich leise. Benimm dich wie immer, schärfe ich mir ein, während ich Charlie in die Eingangshalle folge. Montagabend ist Familientag. Auch wenn es dir nicht in den Kram paßt.
Als der Lift im vierten Stock hält und wir zu der Wohnung unserer Mom gehen, hat Charlie mich noch immer keines weiteren Wortes gewürdigt. So benimmt er sich jedes Mal, wenn er sich aufregt. Er macht die Schotten dicht und läßt alle auflaufen. Genauso ist auch Dad mit seinen Problemen umgegangen. Wenn er es mit jemand
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