Die Bank
selbst da. Dieser Ort gehört Charlie. Ich folge ihm auf dem Fuß, während er scharf nach links abbiegt, sich durch die Menge der Pendler und Touristen drängt und auf eine der Dutzend Treppen zuläuft, die in das Untergeschoß des Bahnhofs führen.
»Immer schön ruhig«, sage ich und zupfe auf der Treppe an seinem Hemd. Ich will kein Aufsehen erregen.
Ja, falls jemand uns beobachtet , sagt er mit einem ironischen Blick und zieht eine Braue hoch.
Charlie springt die letzten drei Stufen mit einem Satz herunter. Die Schuhsohlen knallen laut auf dem Zementboden. Seine Füße müssen in den Anzugschuhen brennen, aber er sagt kein Wort.
»Wohin jetzt?« Ich hole ihn rasch ein.
Ohne zu antworten, stürmt mein Bruder durch das Untergeschoß des Bahnhofs, in dem sich mittlerweile eine Imbißbude an die nächste reiht. Charlie folgt dem Geruch des Fleisches unter den Wärmelampen, aber sein Blick klebt förmlich an einem nach links deutenden Pfeil unter einem uralten, gefliesten Zeichen: »Zu den Gleisen 100-117.«
»Und los geht’s«, sagt er.
Im Korridor liegen die modernen Freßtempel zur Linken und die uralten Gleiszugänge aus dem letzten Jahrhundert zur Rechten. Ich zähle die Torbögen, während ich laufe. 108 … 109 … 110. Am entlegensten Ende des Korridors entdecke ich das Kaninchenloch. Die Gleise 116 und 117.
Als wir durch eine Tür stürmen, finden wir uns am oberen Ende einer schmalen Treppe wieder, von der aus wir auf den breiten Betonbahnsteig hinunterblicken können. Wie auf Bestellung steht ein Zug auf Gleis 116 an der rechten Seite des Bahnsteigs. Aber auf die linke Seite, auf Gleis 117, läuft kein Zug mehr ein. Nie mehr. Einfacher ausgedrückt, Gleis 117 existiert offiziell gar nicht. Sicher, der Raum ist da, aber es ist kein aktives Gleis. Statt dessen hat man in den letzten zehn Jahren eine lange Reihe von Waggons mit Baucontainern darauf abgestellt.
»Hier hast du gespielt?« frage ich, während wir zwei Bauarbeiter hinter dem beleuchteten Fenster in einem der Waggons beobachten.
»Nein«, erwidert er und biegt auf einen schmalen Pfad links von mir ein. »Hier habe ich mich versteckt …«
Als er meinen verblüfften Gesichtsausdruck sieht, erklärt er: »Als ich damals neu auf der Highschool war, sind Randy Boxer und ich von Gleis zu Gleis gegangen und haben für die Pendler Musik gemacht. Er hinter der Mundharmonika, ich hinter dem Baß und vor uns das größtmögliche Publikum diesseits vom Madison Square Garden. Natürlich hat uns die Bahnpolizei bei jeder Gelegenheit gejagt, aber in dem Labyrinth der Treppenhäuser bot die unterste Ebene immer die besten Plätze, um zu verschwinden. Und hier, hinter Gleis 117, konnten wir uns erholen, um anschließend den Kampf wiederaufzunehmen.«
»Bist du sicher, daß das hier ungefährlich ist?« frage ich, während Charlie bereits über den von Schmutz übersäten Laufsteg hastet, der quer über Gleis 117 führt. Es ist nicht der Laufsteg, der mich innehalten läßt, sondern die Metalltür an seinem anderen Ende und die braunen, verblichenen Worte, die darauf gemalt sind:
Nur für Beschäftigte
Halt! Achtung!
Gefahr!
Gefahr. Das ist das Wort, bei dem ich auf die Bremse trete, während Charlie noch einen Gang zulegt.
»Charlie, vielleicht sollten wir …«
»Stell dich nicht so an!« ruft er, während er die Türklinke packt. Er betrachtet das rostige Metall, zieht einmal kräftig daran, und als die Tür aufschwingt, weht uns ein Sturm aus Staub ins Gesicht. Charlie verschwindet in diesem Sturm. Und ich stehe plötzlich allein da.
Also folge ich ihm in den angrenzenden Raum. Wir befinden uns in einem riesigen Untergrundbahnhof und stehen am Rand von stillgelegten Zuggleisen.
Für Charlie ist es eine Heimkehr. »›Wo Züge zum Sterben hinkommen‹, sagte Randy immer.«
Als ich mich umsehe, wird mir klar, warum. Der Tunnel ist breit genug für drei Gleise und so groß, daß die alten Dieselzüge hier abgestellt werden können. Seine Decke ist pechschwarz und macht deutlich, warum man die Dieselzüge abgeschafft hat. Neben den rostigen Gleisen und den noch rostigeren Profilträgern liegen Kondome, Zigarettenkippen und mindestens zwei benutzte Injektionsnadeln. Keine Frage, das hier ist ein gutes Versteck.
»Macht die Tür zu«, ruft uns Shep vom Bahnsteig aus entgegen.
»Schön, dich zu sehen«, erwidert Charlie und deutet über die Schulter. »Mach dir keine Sorgen wegen der Tür. Dahinten hört man nichts.«
Shep sieht
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