Die Bank
sage ich. Er schaut mich über seine Schulter an, und ich hebe den Saum meines Hemdes hoch. Ich habe die Waffe in den Hosenbund gesteckt.
»Seit wann bist du …?«
»Können wir jetzt gehen?« unterbreche ich ihn.
Charlie legt den Kopf schief. »Laß mich raten«, sagt er. »Es ist ein neuer Sheriff in der Stadt.«
Ich schenke mir eine Antwort, drehe mich um und gehe nach draußen. Mein Bruder ist ein paar Schritte hinter mir. Bereit oder nicht: Duckworth, wir kommen!
»Was hast du vor?« Charlie hetzt hinter mir her, als ich plötzlich scharf nach rechts in die Sixth Street einbiege. Vor uns kreuzen früh aufgestandene Touristen und Einheimische die Washington Avenue. Hier in den Seitenstraßen sind wir sicher. Einen halben Block weiter sind wir im offenen Gelände. Selbst Charlie würde das Risiko nicht eingehen, deshalb hält er mich am Hemd fest. »Hast du Sonnenlotion getrunken?« will er wissen. »Ich dachte, wir gehen zu Duckw…«
»Sag es nicht«, schneide ich ihm das Wort ab und sehe mich rasch um. »Vertrau mir, das hier ist genauso wichtig.«
Ich befreie mich aus seinem Griff und gehe rasch zur Straßenecke, wo eine lange Reihe von Zeitungskisten steht. Miami Herald, USA Today … Und die, auf die ich mich sofort stürze, die New York Times . Ich schiebe der Maschine vier Münzen in den Rachen, drücke die Klappe herunter und greife nach einer Zeitung mitten aus dem Stapel.
»Warum nimmst du eigentlich nie die erste?« fragt Charlie.
Ich ignoriere diesen typischen Spruch meines Bruders und ziehe die Zeitung heraus.
»Nein, du hast vollkommen recht«, fährt er fort. »Die oberste hat Läuse.« Als die Klappe zufällt, schüttelt er den Kopf.
»Gehen wir.« Wir laufen in die Sixth Street zurück. Im Gehen schlage ich die Zeitung auf und überfliege die erste Seite.
»Stehen wir drin?« erkundigt sich Charlie.
Ich lese weiter und suche irgendeine Erwähnung der gestrigen Ereignisse. Kein Geld, keine Unterschlagung, kein Mord. Ehrlich gesagt, überrascht mich das auch nicht. Lapidus wird all das vor der Presse geheimhalten. Trotzdem: Irgendwas passiert immer. Ich bleibe mitten auf der Straße stehen und blättere weiter um. Bis ich bei den Todesanzeigen lande.
»Laß mich auch sehen«, sagt Charlie und dängt sich neben mich.
Wir stehen unter einer vertrockneten Palme. Ich halte die linke Seite der Zeitung und Charlie die rechte. Wir finden es nach dem Alphabet aufgelistet. Normalerweise überfliegt er die Nachrichten, und ich lese. Heute ist es umgekehrt. »Graves … Shepard … 37 … aus Brooklyn … Chef der Sicherheitsabteilung … Greene & Greene … hinterläßt seine Frau, Sherry … Mutter Bonnie … Schwester Claire … Der Trauergottesdienst wird abgehalten …«
»Ich wußte gar nicht, daß er verheiratet war«, meinte Charlie. »Diese Schweine schreiben nicht mal, daß er beim Secret Service war.«
»Charlie …«
»Hör auf damit! Du kanntest ihn nicht, Ollie. Das war sein Leben!«
»Ich behaupte ja nicht das Gegenteil. Ich bitte dich nur, wenigstens einmal aufzupassen! Hier geht es nicht um seine Tätigkeiten, es geht darum, was in dem Bild fehlt.« Ich reiße mich zusammen und flüstere. »Dreihundert Millionen Dollar sind verschwunden, und das kommt nicht mal in die Klatschspalten? Ein ehemaliger Geheimagent wurde erschossen, von mehreren Kugeln in die Brust getroffen, und niemand schreibt auch nur ein Wort darüber? Begreifst du nicht, was sie da machen? Für diese Kerle ist es ein Kinderspiel, einen Nachruf zu fälschen. Was auch immer sie sagen, die Leute glauben es. Und was wirklich passiert ist, wurde alles ausgelöscht. Genau das haben sie auch mit uns vor, Charlie. Sie schütteln den Wunderblock, und das ganze Spiel verschwindet. Dann schreiben sie statt dessen hin, was ihnen gefällt. Verdächtige mit drei Millionen gefunden. Die Ermittlungen deuten auf Mord hin. Das ist die neue Realität, Charlie. Und wenn sie mit dem Schreiben fertig sind, haben wir keine Chance mehr, sie zu ändern.«
Ich zwinge Charlie dazu, wegzusehen, und gebe ihm Gelegenheit, es zu verdauern. Wir gehen beide gleichzeitig los, in Richtung Tenth Street. Duckworth ist nur noch ein paar Blocks entfernt.
Mit dreihundert Millionen Dollar auf dem Konto und dem Ruhestand im Kopf könnte sich Duckworth alles ausgesucht haben. Ich habe eine protzige Villa vorausgesagt, Charlie glaubt an ein mediterranes Landhaus. Wir hätten beide nicht falscher liegen können.
»Das glaube ich nicht.«
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