Die Bank
Charlie starrt über die Straße auf einen Bungalow aus den sechziger Jahren. Er ist verwittert, und die hellrosa Farbe blättert überall ab. Ganz offensichtlich hat er seine Blütezeit weit überschritten.
»Es ist eindeutig die richtige Adresse«, sage ich, während ich sie zum dritten und vierten Mal überprüfe.
Charlie nickt, sagt aber nichts. Nach allem, was es uns gekostet hat hierherzukommen. Allein der Anblick … Das also ist es endlich.
»Vielleicht sollten wir lieber später wiederkommen«, schlägt er vor.
»Charlie, hier lebt der Kerl, der alle Antworten hat. Komm schon, wir müssen nur klingeln …« Ich überquere die Straße. Als Charlie mir nicht folgt, bleibe ich stehen und sehe mich um. »Alles okay?«
»Natürlich.« Aber er weigert sich immer noch, die Straße zu überqueren.
»Sicher?«
Diesmal braucht er etwas länger für seine Antwort. Charlie mag es nicht, wenn ich Angst habe. Und schon gar nicht, wenn er selbst Schiß bekommt. »Mir geht’s gut«, behauptet er. »Geh du nur hin und läute.«
Ich schlängele mich an den wuchernden Sträuchern und an dem blauen VW Käfer, einem Klassiker, vorbei, der vor der Tür steht, gehe dann den Fußweg hinauf, öffne die verrostete Fliegengittertür und drücke ängstlich auf die Klingel.
Nichts passiert.
Ich klingele wieder, lehne mich gegen die offene Tür und versuche, entspannt auszusehen.
Immer noch reagiert niemand.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und verrenke mir den Hals, um durch das rhombusförmige Fenster zu schauen, das sich in der Tür befindet.
»Was ist da zu sehen?« fragt Charlie.
Ich drücke mir die Nase auf dem Glas platt und versuche, meinen Blickwinkel zu verbessern. In dem Moment werden drinnen die Schlösser betätigt. Der Türknauf dreht sich. Ich springe zurück. Zu spät.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragt die junge Frau, die in der offenen Tür steht. Sie hat schwarze lockige Haare, dünne Lippen und eine winzige Stubsnase. Mein Blick gleitet unwillkürlich zu ihren verblichenen Jeans und dem weißen Top mit den Spaghettiträgern.
»Entschuldigen Sie«, stammele ich. »Ich wollte nicht … Wir suchen nur einen Freund …«
»Wir wollten zu Marty Duckworth«, kommt mir Charlie zu Hilfe.
Ich danke ihm für die Rettung. In dem Moment ändert sich die Körpersprache der Frau. Ihre Stirn glättet sich, und ihre Schultern sinken herab. »Sind Sie Freunde von ihm?«
»Ja«, erwidere ich ausweichend. »Warum?«
Sie läßt sich einen Moment Zeit, während sie ihre Worte sorgfältig zurechtlegt. »Marty Duckworth ist vor sechs Monaten gestorben.«
Die Worte schweben in der Luft, und ich stehe da und wirke wie hypnotisiert. Fast, als erwarte ich, daß Duckworth persönlich auftauchen und schreien würde: »April, April! Hier bin ich!« Natürlich passiert das nicht. Ich sehe mich um, aber ich nehme nichts wahr.
»Also ist er wirklich tot?« fragt Charlie beinahe ein wenig in Panik.
»Tut mir leid«, sagt die junge Frau. »Ich wollte nicht …«
»Schon okay«, sagt er. »Sie konnten ja nicht …«
»Kannten Sie Duckworth?« unterbreche ich ihn.
»Nein«, erwidert sie. »Aber …«
»Woher wissen Sie dann, daß er tot ist?«
»Ich … ich erinnere mich an seinen Namen auf dem Kaufvertrag. Es war ein Verkauf aus seinem Nachlaß.«
Charlie beugt sich vor und kneift mich in den Rücken. »Wir sollten gehen«, zischt er durch die Zähne. Er schenkt der Frau ein falsches Lächeln. »Danke für Ihre Hilfe«, sagt er dann.
»Es tut mir leid«, ruft sie, als wir weggehen. »Es tut mir leid für Ihren Verlust.«
Charlie tritt über einen Schlauch und duckt sich unter den Rasensprenger, der alles durchnäßt, was ihm vor die Düsen kommt. Mit einem kurzen Blick überzeugt mein Bruder sich, daß uns keiner gefolgt ist, und läuft im Zickzack in unsere neue Wohnung. Er stürmt hinein und betrachtet mich unbehaglich, während ich zwischen Wohnraum und Küchennische hin und her gehe.
»Meinst du, daß wir etwas übersehen haben?« frage ich.
»Was sollten wir wohl übersehen? Man hat uns in New York gesagt, daß Duckworth tot ist … wir sind hierhergekommen, weil wir uns selbst davon überzeugen wollten, und nun hat die Frau uns dasselbe erzählt. Duckworth ist tot. Die Show ist vorbei. Es wird Zeit, einen neuen Schlagzeuger zu suchen.«
Ich gehe immer noch unruhig hin und her und starre zu Boden. »Vielleicht sollten wir noch einmal mit ihr reden …«
»Ollie …«
»Duckworth könnte sich irgendwo
Weitere Kostenlose Bücher