Die Bankerin
er nie zuvor gesehen hatte. Erst an ihren Stimmen erkannte er sie, und ganz allmählich kehrte sein Gedächtnis zurück, nur die Ereignisse in jener verhängnisvollen Nacht waren ausgelöscht, er konnte sich nicht erinnern, so sehr er sich auch anstrengte. Auf dem linken Auge war er fast blind, auf dem rechten hatte er noch eine Sehschärfe von etwa sechzig Prozent. Johanna hatte jede freieMinute bei ihm verbracht, manchmal war sie erst spät in der Nacht nach Hause gekommen. Sie betete Tag und Nacht, sie flehte Gott an, ihr und Thomas beizustehen, ihr und Thomas alle Sünden zu vergeben, so groß sie auch sein mochten, sie nicht zu verlassen. David aber betete nicht.
Thomas wurde krankengymnastisch betreut, im Rollstuhl umhergefahren, er weinte viel, doch selten, wenn jemand bei ihm war, eine Schwester berichtete es David. Sein junges, hoffnungsvolles Leben war in eine furchtbare Bahn gelenkt worden, auf der zu fahren er noch nicht bereit war und vielleicht nie sein würde. Diese Unfähigkeit, seine Beine zu bewegen, sie nicht zu fühlen, wenn er auch noch so kräftig hineinzwickte, dieses tote Fleisch, diese zu nichts mehr zu gebrauchenden Muskeln, diese Starre, dazu dieser Nebel auf dem einen Auge, die nachlassende Schärfe auf dem anderen. Er verzweifelte. Er hatte viel verlernt; wenn er sprach, kam es nur stockend über seine Lippen, und die Sätze waren häufig unvollständig. Womit hatte er das verdient, was hatte er Böses getan? Immer und immer wieder wollte er die schicksalhafte Nacht rekonstruieren, versuchte er sich die Gesichter derjenigen vorzustellen, die ihm das angetan hatten. Zahllose Male stellten sie ihm die Frage nach dem Rauschgift, doch auch hier verließ ihn sein Gedächtnis, nein, er schwor Stein und Bein, nie auch nur ein Milligramm Rauschgift besessen zu haben. Irgendwann dachte Thomas an den Tod. Irgendwann wollte er nicht mehr leben. Er wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen, er wollte nur allein sein. Er dachte daran, aus dem Fenster in die Tiefe zu springen, doch er war zu schwach, er hätte ja hinkriechen und sich hochhangeln müssen, um das Fenster überhaupt öffnen zu können, wenn es sich denn öffnen ließ. Irgendwann, vielleicht, würde er es tun. Im Krankenhaus hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Sein junges Leben war so sinnlos geworden.
Die Polizei hatte nichts über den oder die Täter herausgefunden, Phantome, die im Nichts untergetaucht waren. David vermutete aber, daß die Polizei nicht sonderlich daran interessiert war, die Schläger zu finden. Wahrscheinlich dachten sie, daß Thomas in einem Milieu verkehrte, in dem zusammengeschlagen und getötet zu werden eben zum Risiko gehörte.
Und David ging weiterhin dreimal in der Woche zu Nicole, die nur anfangs scheinbar Mitgefühl mit Thomas zeigte; doch David spürte rasch, daß sie an sich keinerlei Interesse für sein Privatleben aufbrachte. Doch er fand, er war es jetzt nicht nur Johanna und sich selbst schuldig, jetzt mußte er auch für Thomas arbeiten. Er fügte sich allen Bedingungen, die Nicole ihm auferlegte, so demütigend sie auch sein mochten. Es gab Abende, da sprach sie kein Wort mit ihm, wollte nicht, daß er fernsah, Musik hörte, alles, was sie duldete, war, daß er sich betrank. An anderen Abenden gierte sie unentwegt nach seinem Körper, und nicht immer war er in der Lage, diese Gier zu befriedigen. Dann verhöhnte und verspottete sie ihn und drohte ihm mit Kündigung. Sie reichte ihm Zuckerbrot, und sobald er es nahm, gab sie ihm die Peitsche. Und David ertrug alles ohne Murren. Er kochte, putzte, fickte. Sie sagte »hopp«, und er sprang, und manchmal kopulierten sie wie räudige Straßenköter, schmutzig und hart. David hatte nur noch ein Ziel vor Augen. Und sein Gewissen, das anfänglich so machtvoll zu ihm gesprochen, ja geschrien hatte, war fast gänzlich verstummt.
David hatte einen Freund. Wobei Freund nicht der richtige Ausdruck war, denn es handelte sich um einen Mann, den David vor Jahren auf dem Flohmarkt kennengelernt hatte und den er nur sehr sporadisch sah. Ein Mann, den David jederzeit besuchen durfte, der keine Ansprüche stellte, der allein lebte. Ein Bär, ein Hüne, mit riesigen Händen, so großwie Pizzateller, immer unrasiert, die langen, schwarzen Haare immer fettig und nie gekämmt. Er hatte sich in einer ausrangierten Fabrikhalle eingenistet, wo er seinen Tätigkeiten nachging – Malen, Bildhauern, Schweißen, Saufen. An einem brütend heißen Sommertag
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