Die Bankerin
etwa nicht aus Ihrer Not und Verzweiflung? Ich finde, ich bin ein guter Mensch.«
»Ich möchte jetzt bitte anrufen!« sagte David gereizt.
»Bitte, wenn die liebe Seele damit Ruh’ hat!«
Johanna nahm bereits nach dem ersten Läuten ab, sagte mit sich überschlagender Stimme, daß ihr Vater am Nachmittag einen schweren Herzinfarkt hatte, gleich nach der Dialyse, und die Ärzte meinten, daß es jederzeit mit ihm zu Ende gehen könnte. Sie stockte, schluchzte, putzte sich die Nase, und David wartete, bis sie sich beruhigt hatte.
»Können wir übermorgen fahren?«
»Und wie lange?«
»Ein paar Tage nur.«
»Ich muß mir dafür freinehmen. Aber das sollte kein Problem sein. Ich werde in zwei Stunden zu Hause sein. Am besten nimmst du jetzt eine Tablette, damit du ruhiger wirst.«
»Bitte komm so schnell wie möglich!«
David und Johanna legten gleichzeitig auf. David trank ein halbes Glas Whisky, behielt das Glas aber in der Hand. »Mein Schwiegervater liegt im Sterben«, sagte er. »Ich muß übermorgen hinfahren.«
»Übermorgen? Und wie lange?«
»Sonntag, Montag, ich weiß es nicht.«
»Und wo wohnt er?«
»In einem kleinen Ort an der Ostsee.«
»Wir sind für Freitag verabredet, das haben Sie doch wohl hoffentlich nicht vergessen!«
»Nein, habe ich nicht, verdammt noch mal! Ich werde Sie aber bitten müssen, mir für Freitag freizugeben!«
Sie lächelte maliziös und überlegen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Natürlich bekommen Sie frei. Was ist mit Ihrem Schwiegervater?«
»Er hatte einen Herzinfarkt. Seinen zweiten bereits. Die Ärzte sagen, es geht zu Ende.«
»Wie alt ist er?«
»Vierundsechzig.«
»Ich habe meinen Vater verloren, als er gerade neunundvierzig war. Er ist an Krebs gestorben. Nein, er ist nicht gestorben, er ist dahingesiecht, gequält von den grauenvollsten Schmerzen, aber der Krebs kam nicht vom Körper, er kam von seiner Seele. In der Seele meines Vaters war etwas, das ihn nicht am Leben ließ.« Ihr Blick war auf David gerichtet und doch abwesend. Sie hielt die ausgerauchte Zigarette zwischen den Fingern und drückte sie in den Aschenbecher, als zerquetschte sie eine Laus. »Ich hatte einen wunderbaren Vater, vielleicht den besten, den man sich nur vorstellen kann. Warmherzig, liebevoll, gütig. Niemand kann je einen solchen Vater haben.« Sie hielt inne, stand auf und ging auf den Balkon. Drückende Schwüle lag über der Stadt, vom westlichen Horizont her näherte sich eine finstere Wolkenfront. Kein Luftzug bewegte die Blätter in den Bäumen, kaum ein Vogel piepste, in einem Garten drehte sich einsam ein Rasensprenger, noch jemand, der sich einen Dreck um das Verbot der Wasserverschwendung scherte. David stellte sich zu Nicole, lehnte sich mit den Armen auf die Brüstung und schaute hinunter auf die Straße.
»Sie haben mir noch nie etwas über sich erzählt«, sagte er.
»Ich dachte, Ihre Eltern leben noch. Tut mir leid.«
Sie lachte kurz auf. »Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ich bin alt genug, um allein zurechtzukommen. Glauben Sie mir!«
»Und Ihre Mutter?«
»Ich war noch klein, kann mich kaum an sie erinnern … Werden Sie am Montag wieder da sein?« Sie sprach offenbar nicht gerne über ihre Vergangenheit, ein Verdrängungsprozeß, wie David mit seinen laienhaften psychologischen Kenntnissen vermutete.
»Ich weiß es nicht.«
»Und die Kinder? Fahren sie mit? Vor allem, was ist mit Thomas?«
»Er ist seit einer Woche in einer Reha-Klinik. Die anderen werden wohl die paar Tage allein zurechtkommen. Vielleicht bleiben sie hier.«
»Da ich Sie jetzt eine Weile nicht sehen werde, möchte ich, daß Sie heute mit mir schlafen. Wir haben es seit einer Weile nicht mehr getan.«
»Heute, ausgerechnet heute?«
»Können Sie heute nicht?«
»Schon, aber …«
»Haben Sie etwa moralische Bedenken, jetzt, wo Ihr Schwiegervater …?« fragte sie mit diesem unglaublichen Spott.
»Vielleicht …«
»Seltsam, Sie haben keine Bedenken, was Ihre Familie angeht, aber bei Ihrem Schwiegervater, der Hunderte von Kilometern entfernt lebt, da behaupten Sie, welche zu haben! Also gut, lassen wir’s!«
»Es war nicht so gemeint«, lenkte David ein. »Wenn Sie möchten.«
»Gut, dann lassen Sie uns hineingehen.«
Sie liebten sich eine volle Stunde. Danach zog David sich an und betrachtete für einen Moment stumm ihr Gesicht. Er versuchte, ihr Wesen zu ergründen, in ihren Augen, an ihrem Mund. Kein Spott, kein Lächeln, nur eine regungslos
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