Die Begnadigung
häufig, dass Marco keine Ahnung hatte, was ihn erwartete. Er erinnerte sich noch gut an ihre warme Art vom Vortag, aber er hielt es durchaus für möglich, dass ihn heute kalte Gleichgültigkeit erwartete. Doch als sie lächelnd nach seiner Hand griff und ihn auf die Wangen küsste, wusste er sofort, dass der Unterricht der einzige Lichtblick an diesem schwarzen Tag werden würde.
Als sie endlich allein waren, erkundigte er sich nach ihrem Mann. Die Lage war unverändert. »Es ist nur noch eine Frage von Tagen«, sagte sie mit starrer Miene, als wäre sie bereits in Trauer.
Er fragte nach ihrer Mutter, Signora Altonelli, und erhielt einen ausführlichen Bericht. Sie war dabei, den Birnenkuchen zu backen, den Giovanni immer so gern gegessen hatte – nur für den Fall, dass er den Duft aus der Küche wahrnahm.
»Und wie war Ihr Tag?«
Eine einzige Katastrophe – von dem Schock, in der Dunkelheit seinen echten Namen zu hören, bis zu dem sorgfältig inszenierten Diebstahl. Schlimmer hätte es nicht kommen können.
»Ein kleiner Zwischenfall beim Mittagessen«, erwiderte er.
»Erzählen Sie.«
Er beschrieb seinen Fußmarsch nach San Luca, zu der Stelle, wo sie gestürzt war, und ihrer Bank, die Aussicht, die Absage bei Ermanno, das Essen mit Luigi, das Feuer, den Verlust seiner Tasche. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie fehlte, bis er davon erzählte.
»In Bologna gibt es kaum Kriminalität«, meinte sie entschuldigend. »Ich kenne das Caffè Atene. Dort kommt normalerweise nichts weg.«
Diese Diebe waren auch nicht von hier, hätte er am liebsten gesagt, doch er nickte nur betroffen. Ja, ja, wo soll das alles enden?
Nach diesem Geplänkel verwandelte sie sich wieder in die gestrenge Lehrerin. Sie sei in der Stimmung, sich mit Verben zu befassen, verkündete sie. Er nicht, aber seine Stimmungen waren unwichtig. Sie ließ ihn das Futur von abitare (»wohnen«) und vedere (»sehen«) aufsagen. Dann musste er beide Verben in sämtlichen Zeiten in hunderte von Beispielsätzen einbauen. Selbst der geringste Aussprachefehler wurde umgehend korrigiert. Grammatikfehler wurden getadelt, als hätte er die nationale Ehre Italiens beleidigt.
Sie war den ganzen Tag lang mit ihrem sterbenden Mann und ihrer geschäftigen Mutter in ihrer Wohnung eingesperrt gewesen. Der Unterricht war ihre einzige Möglichkeit, Dampf abzulassen. Dagegen war Marco bereits erschöpft. Der anstrengende Tag forderte seinen Tribut, aber Francescas anspruchsvolles Tempo ließ ihn seine Müdigkeit und Verwirrung vergessen. Eine Stunde verging wie im Flug. Nachdem sie ihre Energiereserven mit noch mehr Kaffee aufgefüllt hatten, wagten sie sich in die düsteren Gefilde des Konjunktivs – Präsens, Präteritum und Perfekt. Schließlich geriet er ins Trudeln. Sie tröstete ihn mit der Versicherung, dass viele Lernende am Konjunktiv scheiterten. Aber er war müde und hätte am liebsten kapituliert.
Nach zwei Stunden gab er auf. Er war völlig erschöpft und sehnte sich nach einem weiteren langen Spaziergang. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie sich von Ninos Söhnen verabschiedet hatten. In gehobener Stimmung brachte er Francesca zu ihrer Wohnung, wo sie sich auf die Wangen küssten und umarmten, nachdem sie sich für den nächsten Tag verabredet hatten.
Wenn er den kürzesten Weg nahm, war seine Wohnung nur fünfundzwanzig Minuten entfernt. Aber es war über einen Monat her, dass er auf direktem Weg irgendwohin gegangen war.
Er fing an, ziellos herumzuwandern.
Um sechzehn Uhr waren acht Mitglieder der Kidon auf der Via Fondazza unterwegs. Einer trank in einem Straßencafé einen Espresso, einige schlenderten ziellos in einem Abstand von etwa hundert Metern durch die Straße, einer fuhr auf einer Vespa hin und her, und wieder ein anderer sah aus einem Fenster im zweiten Stock.
Einen knappen Kilometer entfernt, außerhalb des Stadtzentrums, spielten die vier übrigen Mitglieder der Kidon im ersten Stock über einem Blumengeschäft, das einem älteren Juden gehörte, Karten und warteten nervös. Einer von ihnen, ein gewisser Ari, war einer der Topmänner des Mossad für auf Englisch geführte Verhöre.
Sie spielten, ohne viel zu reden. Die vor ihnen liegende Nacht würde lang und unangenehm werden.
Den ganzen Tag über hatte sich Marco mit der Frage herumgeschlagen, ob er in die Via Fondazza zurückkehren sollte. Gut möglich, dass sich die Kerle vom FBI noch dort herumtrieben. Das konnte hässlich werden. Die ließen sich bestimmt
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