Die Begnadigung
war. Falls Julia Javier diese Unterlagen jemals gesehen hatte, war es ihr entfallen. In dem herrschenden Chaos war es aber auf jeden Fall besser, das niemandem auf die Nase zu binden.
Die Informationen stammten vom FBI, das sie vor Jahren, während Backmans Hintergrund überprüft worden war, nur widerwillig herausgerückt hatte. Besonders seine Finanzgeschäfte wurden damals unter die Lupe genommen, weil das Gerücht umging, er habe einen Mandanten geprellt und irgendwo ein Vermögen versteckt. Aber wo war das Geld? Das FBI war gerade dabei, seine Reisen zu rekonstruieren, als er sich plötzlich schuldig bekannte und ins Gefängnis wanderte. Damit war die Backman-Akte nicht geschlossen, aber der Druck war weg. Ohne große Eile wurden die Nachforschungen irgendwann abgeschlossen und die Ergebnisse nach Langley geschickt.
In dem Monat, in dem Backman angeklagt, verhaftet und schließlich unter strengen Auflagen gegen Kaution freigelassen worden war, hatte er zwei kurze Europareisen unternommen. Zuerst waren er und seine Lieblingssekretärin mit Air France in der Businessclass nach Paris geflogen, wo sie sich ein paar Tage im Bett vergnügt und die Sehenswürdigkeiten besichtigt hatten. Später erzählte die Frau den Ermittlungsbeamten, Backman sei für einen Tag nach Berlin gereist, zum Abendessen bei Alain Ducasse aber zurück gewesen. Sie habe ihn nicht begleitet.
Es gab keine Hinweise darauf, dass Backman in jener Woche mit einer regulären Fluggesellschaft nach Berlin oder in eine andere europäische Stadt geflogen war. Dafür hätte er einen Pass benötigt, und das FBI war davon überzeugt, dass er seinen nicht benutzt hatte. Für eine Zugfahrt war ein Pass nicht erforderlich, und Genf, Bern, Lausanne und Zürich waren von Paris aus alle innerhalb von vier Stunden zu erreichen.
Die zweite Reise war ein Zweiundsiebzig-Stunden-Trip erster Klasse von Washington nach Frankfurt. Wieder ging es angeblich um Geschäfte, wobei die Geschäftspartner nicht auffindbar waren. Backman hatte für zwei Nächte in einem Frankfurter Luxushotel bezahlt, und es gab keine Hinweise darauf, dass er irgendwo anders übernachtet hätte. Auch von Frankfurt aus waren die Schweizer Bankzentren innerhalb weniger Stunden mit dem Zug zu erreichen.
Nachdem Julia Javier die Akte endlich gefunden und den Bericht gelesen hatte, rief sie umgehend Whitaker an und sagte: »Er will in die Schweiz.«
Madame besaß genügend Gepäck für eine gut ausgestattete fünfköpfige Familie. Ein entnervter Träger half ihr, die schweren Koffer in den Zug zu hieven, wo sie mehr als das halbe Abteil mit Beschlag belegte. Ihre Habseligkeiten und sie selbst füllten mindestens vier der sechs Sitze. In eine Parfümwolke gehüllt, ließ sie sich Marco schräg gegenüber nieder und wackelte mit ihrem ausladenden Hinterteil, als wäre der Sitz dehnbar. Sie warf Marco, der sich auf seinen Fensterplatz duckte, einen Blick zu und begrüßte ihn mit einem verführerischen » Bonsoir « . Französin, dachte er. Auf Italienisch zu antworten wäre ihm unpassend vorgekommen. Er entschied sich für Englisch, das beherrschte er zumindest.
»Hallo.«
»Ach, ein Amerikaner.«
Marco war angesichts der ganzen Sprachen, Identitäten, Namen, Kulturen, Lebensgeschichten und Lügen, Lügen, Lügen so verwirrt, dass er die richtige Antwort nur mit Mühe herausbrachte. »Nein, Kanadier.«
»Ah.« Offenbar wäre ihr ein Amerikaner lieber gewesen. Madame war etwa sechzig, besaß kräftige Waden und trug schwarze Pumps, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Ihr robuster Körper steckte in einem engen roten Kleid, und die stark geschminkten Augen waren verquollen. Bald stellte sich heraus, warum. Lange bevor sich der Zug in Bewegung setzte, holte sie einen Flachmann heraus und schraubte den Deckel ab, der gleichzeitig als Becher diente. Sie schenkte sich ein, kippte die Flüssigkeit hinunter und strahlte Marco an. »Möchten Sie?«
»Nein, danke.«
»Das ist ein sehr guter Weinbrand.«
»Nein, danke.«
»Wie Sie wollen.« Sie goss sich noch einmal ein, leerte den Becher und verstaute die Flasche wieder.
Eine lange Zugfahrt drohte endlos zu werden.
»Wohin fahren Sie?«, fragte sie in sehr gutem Englisch.
»Stuttgart. Und Sie?«
»Nach Stuttgart, und dann weiter nach Straßburg. In Stuttgart halte ich es nicht lange aus.« Sie verzog die Nase, als wäre die ganze Stadt eine einzige Kloake.
»Ich liebe Stuttgart«, erwiderte Marco, nur um ihre Reaktion zu testen.
»Na
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