Die Begnadigung
eine Schere. In der muffigen Umkleidekabine nahm er so gut wie möglich Maß und schnitt die Hose dann selbst ab. Als er in seinem neuen Ensemble in den Laden zurückkehrte, brach der Verkäufer beim Anblick der ausgefransten Ränder fast in Tränen aus.
Mit den Schuhen, die Marco probierte, hätte er es nicht einmal bis zum Bahnhof geschafft, daher behielt er für den Augenblick seine Wanderschuhe. Sein bester Kauf war ein hellbrauner Strohhut, für den er sich entschied, weil er unmittelbar, bevor er den Laden betrat, jemand mit einem solchen Hut gesehen hatte.
Was interessierte ihn in seiner Situation die Mode?
Sein neues Outfit kostete ihn fast vierhundert Euro. Es tat ihm in der Seele weh, so viel Geld auszugeben, aber ihm blieb keine Wahl. Er versuchte, Giovannis Aktentasche einzutauschen, die mit Sicherheit mehr wert war als alles, was er am Leib trug, aber der Verkäufer war wegen der verstümmelten Hose zu deprimiert. Es gelang ihm kaum, ein schwaches »Danke, auf Wiedersehen« zu stammeln. Marco verließ den Laden mit einer roten Einkaufstüte, in der sich die blaue Jacke, die Jeans und das alte Hemd befanden. Zumindest trug er jetzt etwas anderes mit sich herum.
Nach ein paar Minuten Fußmarsch entdeckte er ein Schuhgeschäft. Er kaufte ein Paar, das ihn an Bowlingschuhe erinnerte, zweifellos der hässlichste Artikel in einem sonst sehr netten Laden. Die Schuhe waren schwarz mit weinroten Streifen. Hoffentlich waren sie wenigstens bequem. Er bezahlte hundertfünfzig Euro dafür, nur weil sie angeblich bereits eingelaufen waren. Es dauerte eine Weile, bis er den Mut aufbrachte, sich seine Füße anzusehen.
Luigis Abreise aus Bologna blieb nicht unbemerkt. Der Junge auf der Vespa sah, wie er im Laufschritt aus der Wohnung neben der von Backman kam und mit jedem Schritt schneller wurde. Das fiel auf. Niemand rannte unter den Arkaden der Via Fondazza. Die Vespa hielt sich in sicherer Entfernung, bis Luigi stehen blieb und in einen roten Fiat sprang. Er fuhr ein paar hundert Meter und verlangsamte dann sein Tempo so weit, dass ein zweiter Mann einsteigen konnte. Die beiden rasten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davon, aber im Stadtverkehr konnte die Vespa leicht mithalten. Als sie das Auto vor dem Bahnhof im Parkverbot abstellten, informierte der Junge Efraim erneut über Funk.
Keine fünfzehn Minuten später betraten drei als Verkehrspolizisten verkleidete Mossad-Agenten Luigis Wohnung und lösten dabei mehrere Warnsignale aus, von denen einige kaum, andere gar nicht zu hören waren. Während drei weitere Agenten auf der Straße aufpassten, traten die drei die Küchentür ein und stießen auf eine erstaunliche Sammlung elektronischer Überwachungsgeräte.
Als Luigi, Zellman und ein dritter Agent den Eurostar nach Mailand nahmen, war der junge Vespa-Fahrer ebenfalls an Bord. Er hieß Paul, war das jüngste Mitglied der Kidon und sprach im ganzen Team am besten Italienisch. Trotz seines Ponys und seines Milchgesichts war er bereits sechsundzwanzig und an einem halben Dutzend Liquidierungen beteiligt gewesen. Während er über Funk meldete, dass er an Bord des Zuges war, der sich soeben in Bewegung gesetzt hatte, betraten zwei weitere Agenten Luigis Wohnung, um bei der Analyse der Geräte zu helfen. Eines der Alarmsignale schrillte beständig weiter, ohne dass es ihnen gelungen wäre, es zum Schweigen zu bringen. Das ständige Geräusch war draußen laut genug zu hören, um die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu erregen.
Nach zehn Minuten ließ Efraim die Aktion abbrechen. Die Agenten zerstreuten sich, um sich später in einem ihrer Unterschlupfe wieder zu treffen. Es war ihnen nicht gelungen herauszufinden, wer Luigi war und für wen er arbeitete, aber es war offenkundig, dass er Backman rund um die Uhr beobachtet hatte.
Während die Stunden vergingen, ohne dass Backman wieder auftauchte, kamen sie zu dem Schluss, dass er die Flucht ergriffen haben musste. Konnte Luigi sie zu ihm führen?
Auf der Piazza del Duomo, mitten in Mailand gelegen, starrte Marco unterdessen auf die mächtige gotische Kathedrale, die in nur dreihundert Jahren erbaut worden war. Dann schlenderte er durch die berühmte Galleria Vittorio Emanuele mit ihrer gewaltigen Glaskuppel. Die Galleria ist mit ihren Cafés und Buchhandlungen der Salon der Stadt, ihr beliebtester Treffpunkt. Nachdem die Temperatur fast fünfzehn Grad erreicht hatte, aß Marco draußen, wo sich die Tauben um jeden Krümel stritten, ein Sandwich und
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