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Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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ja.« Ihr Blick fiel auf ihre Schuhe. Sie schleuderte sie in die Gegend, ohne sich darum zu kümmern, wo sie landeten. Marco wappnete sich für eine Geruchsattacke, aber dann wurde ihm klar, dass das billige Parfüm alles andere überdeckte.
    In seiner Hilflosigkeit tat er so, als würde er einschlafen. Sie ignorierte ihn ein paar Minuten lang.
    »Sprechen Sie Polnisch?«, fragte sie dann mit lauter Stimme und einem Blick auf seinen Gedichtband.
    Er fuhr hoch, als hätte sie ihn aus dem Schlaf gerissen.
    »Nein, nicht direkt, aber ich versuche, es zu lernen. Meine Familie stammt aus Polen.« Er hielt den Atem an und rechnete halb und halb damit, dass sie einen Schwall Polnisch hervorsprudeln würde. Das wäre sein Untergang gewesen.
    »Verstehe«, sagte sie missbilligend.
    Um genau 18.15 Uhr blies ein unsichtbarer Schaffner in eine Signalpfeife, und der Zug setzte sich in Bewegung. Zum Glück hatten sich keine weiteren Fahrgäste in ihrem Abteil niedergelassen. Einige waren im Gang stehen geblieben, hatten hereingesehen und waren angesichts der drangvollen Enge zu einem anderen Abteil mit mehr Platz weitergegangen.
    Marco ließ den Bahnsteig nicht aus den Augen. Der Mann aus dem Bus war nirgends zu entdecken.
    Madame sprach dem Weinbrand zu, bis sie zu schnarchen begann. Der Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte, weckte sie. Ein Verkaufswagen mit Getränken kam vorbei. Marco kaufte sich ein Bier und bot seiner Reisegenossin ebenfalls eines an. Diese Zumutung löste ein weiteres gewaltiges Naserümpfen aus.
    Der erste Halt war Como/San Giovanni. Zwei Minuten, niemand stieg ein. Fünf Minuten später hielten sie in Chiasso. Es war mittlerweile fast dunkel, und Marco überlegte, ob er verschwinden sollte. Er studierte die Reiseroute: noch vier Halts vor Zürich, einer in Italien, drei in der Schweiz. Welches Land war für ihn am günstigsten?
    Er konnte jetzt nicht mehr riskieren, dass man ihm folgte. Falls diese Leute im Zug waren, wären sie ihm trotz seiner wechselnden Tarnung von Bologna nach Modena und Mailand gefolgt. Sie waren Profis, denen er womöglich nicht gewachsen war. Marco nippte an seinem Bier und kam sich vor wie ein armseliger Amateur.
    Madame starrte auf den zerschnittenen Saum seiner Hose. Dann wanderte ihr Blick zu seinen Pseudobowlingschuhen, was er ihr beim besten Willen nicht verübeln konnte. Schließlich erregte das knallrote Uhrarmband ihre Aufmerksamkeit. Ihr Gesicht war ein offenes Buch: Sie hielt nichts von seinem Geschmack. Typisch Amerikaner oder Kanadier, oder was auch immer er sein mochte.
    In der Nähe des Luganer Sees funkelten Lichter. Der Zug wand sich durch das Grenzgebiet und gewann dabei zunehmend an Höhe. Die Schweiz war nicht mehr fern.
    Gelegentlich kam jemand den dunklen Gang vor ihrem Abteil entlang, warf einen Blick durch die Glastür und ging weiter zum Ende des Zuges, wo sich die Toilette befand. Madame hatte ihre großen Füße auf dem gegenüberliegenden Sitz platziert, praktisch direkt unter Marcos Nase. Nach nur einer Stunde Fahrt war es ihr gelungen, überall im Abteil Gepäck, Illustrierte und Kleidungsstücke zu verteilen. Marco hatte Angst, seinen Platz zu verlassen.
    Schließlich übermannte ihn die Müdigkeit, und er schlief ein. In Bellinzona, dem ersten Halt auf Schweizer Seite, weckte ihn der Bahnhofslärm. Ein Erster-Klasse-Passagier konnte keinen Platz finden. Er öffnete die Tür zu Madames Abteil, sah sich um und zog dann empört ab, um den Schaffner anzubrüllen, der ihn schließlich in einem anderen Abteil unterbrachte. Madame sah kaum von ihren Modezeitschriften auf.
    Bis zum nächsten Halt waren es eine Stunde und vierzig Minuten. Als Madame erneut nach ihrem Flachmann griff, fragte Marco: »Kann ich doch einen Schluck trinken?«
    Sie lächelte zum ersten Mal seit Stunden. Auch wenn sie nichts dagegen hatte, allein zu trinken, war es in Gesellschaft lustiger. Allerdings nickte Marco nach ein paar Schlucken wieder ein.
     
    Als sie in Arth-Goldau einfuhren, hielt der Zug mit einem solchen Ruck, dass Marco der Hut vom Kopf fiel. Madame sah ihn prüfend an.
    »Jemand hat Sie beobachtet«, berichtete sie, als er endgültig die Augen öffnete.
    »Wo?«
    »Wo? Hier natürlich, im Zug. Er war mindestens dreimal da. Blieb an der Tür stehen, starrte Sie an und schlich davon.«
    Vielleicht liegt es an den Schuhen, dachte Marco. Oder an meiner Hose. Möglicherweise auch am Armband. Er rieb sich die Augen und versuchte, so zu tun, als wäre das für ihn

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