Die Begnadigung
völlig normal.
»Wie sah er aus?«
»Blond, etwa fünfunddreißig, attraktiv, braune Jacke. Kennen Sie ihn?«
»Nein, keine Ahnung, wer das ist.« Der Mann im Bus in Modena hatte weder blondes Haar noch eine braune Jacke gehabt, aber diese Details waren im Augenblick irrelevant. Marco war verschreckt genug, um seine Pläne zu ändern.
Zug, der letzte Halt vor Zürich, war noch fünfundzwanzig Minuten entfernt. Er konnte nicht riskieren, dass sie ihm nach Zürich folgten. Zehn Minuten vor der planmäßigen Ankunft teilte er Madame mit, er müsse zur Toilette. Bevor er sich durch den Hindernisparcours zwischen seinem Platz und der Tür kämpfte, deponierte er Aktentasche und Stock auf seinem Sitz.
Er ging an vier Abteilen vorbei, die jeweils mit mindestens drei Passagieren besetzt waren, von denen keiner verdächtig aussah. In der Toilette schloss er sich ein und wartete, bis der Zug sein Tempo verlangsamte und schließlich hielt. Für den Aufenthalt waren nur zwei Minuten vorgesehen, und bis jetzt war der Zug geradezu lächerlich pünktlich gewesen. Marco wartete eine Minute, hastete dann zu seinem Abteil zurück, öffnete die Tür und griff wortlos nach seiner Aktentasche und seinem Stock, den er bedenkenlos als Waffe einsetzen würde. Dann rannte er zum Ende des Zuges und sprang auf den Bahnsteig.
Der kleine Bahnhof lag über dem Niveau der Straße. Marco raste die Treppe hinunter zum Gehsteig, vor dem ein einsames Taxi wartete. Der Fahrer war hinter dem Lenkrad eingeschlafen. »Hotel, bitte«, sagte Marco und riss den Fahrer damit aus seinem Schlummer. Instinktiv griff er zum Zündschlüssel und fragte etwas auf Deutsch. Marco versuchte es mit Italienisch. »Ich suche ein kleines Hotel. Ich habe kein Zimmer reserviert.«
»Kein Problem«, sagte der Fahrer. Als sie losfuhren, blickte Marco auf und sah, dass sich der Zug in Bewegung setzte. Von Verfolgern keine Spur.
Nach kaum einem halben Kilometer hielten sie in einer stillen Seitenstraße vor einem Fachwerkhaus. »Ein sehr gutes Hotel«, behauptete der Fahrer auf Italienisch.
»Scheint in Ordnung zu sein. Danke. Wie lange dauert es von hier mit dem Auto nach Zürich?«
»Etwa zwei Stunden, je nach Verkehr.«
»Ich muss morgen früh um neun Uhr im Zentrum von Zürich sein. Können Sie mich hinbringen?«
Der Fahrer zögerte einen Augenblick, während er in aller Eile rechnete. »Vielleicht.«
»Was wird das kosten?«
Der Fahrer rieb sich das Kinn und zuckte die Achseln.
»Zweihundert Euro.«
»Gut. Dann fahren wir um sechs hier los.«
»Um sechs. In Ordnung, ich bin da.«
Marco bedankte sich erneut und sah dem davonfahrenden Taxi einen Moment lang nach. Als er das Hotel durch die Vordertür betrat, erklang eine Glocke. Die kleine Rezeption war verlassen, aber irgendwo in der Nähe lief ein Fernseher. Schließlich erschien ein verschlafener Jüngling und lächelte ihn an. »Guten Abend.«
» Parla inglese? « , fragte Marco.
Der Junge schüttelte den Kopf.
» Italiano? «
»Ein wenig.«
»Ich auch«, erwiderte Marco auf Italienisch. »Ich hätte gern ein Zimmer für eine Nacht.«
Der Rezeptionist schob ihm ein Anmeldeformular hin, in das Marco aus dem Gedächtnis Passnummer und Namen einsetzte. Er kritzelte eine erfundene Adresse in Bologna und eine falsche Telefonnummer in die entsprechenden Felder. Der Pass steckte dicht an seinem Herzen in seiner Jackentasche, und er wollte ihn nur hervorholen, wenn es unbedingt sein musste.
Aber es war spät, und der Rezeptionist wollte seine Fernsehsendung nicht verpassen. »Zweiundvierzig Euro«, sagte er, ohne den Pass zu erwähnen. Eine für die Schweiz völlig untypische Schlamperei.
Giovanni legte das Geld auf die Theke und erhielt dafür den Schlüssel zu Zimmer sechsundzwanzig. In überraschend gutem Italienisch bat er um einen Weckruf morgen früh um fünf Uhr. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Ich habe meine Zahnbürste verloren. Hätten Sie vielleicht eine da?«
Der Rezeptionist griff in eine Schublade und holte einen Karton mit den verschiedensten Gegenständen des persönlichen Bedarfs hervor: Zahnbürsten, Zahnpasta, Einwegrasierer, Rasiercreme, Aspirin, Nähzeug, Tarnpons, Handcreme, Kämme, ja, sogar Kondome. Giovanni wählte ein paar Artikel aus und bezahlte zehn Euro.
Eine Luxussuite im Ritz hätte ihm nicht willkommener sein können als Zimmer sechsundzwanzig. Klein, sauber, warm, mit einem bequemen Bett und einer Tür, die sich zweifach verriegeln ließ, um die Gesichter fern zu
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