Die Begnadigung
Regenschirm verbergend. Er war sicher, dass er beobachtet wurde.
Würde man ihn auch in Washington observieren? Er hatte das unangenehme Gefühl, dass es so kommen würde.
8
A us der Siesta wurde nichts. Auch der Wein, den Joel zum Mittagessen getrunken hatte, und die zwei Glas Bier am frühen Nachmittag hatten ihn nicht müde gemacht. Außerdem gab es genug, über das er nachdenken musste.
Irgendwie steckte ihm noch zu viel Schlaf in den Knochen. Wenn man sechs Jahre in Einzelhaft sitzt, gewöhnt sich der Körper an die Passivität, und das Schlafen wird zur Hauptbeschäftigung. Nach den ersten paar Monaten im Gefängnis schlief Joel nachts acht Stunden und gönnte sich zusätzlich einen ausgedehnten Mittagsschlaf. Aber vielleicht war das nicht weiter erstaunlich. Immerhin hatte er vorher zwanzig Jahre lang wenig geschlafen, weil er tagsüber für das Wohl des Vaterlandes verantwortlich zu sein glaubte und anschließend bis zum Morgengrauen Frauenröcken hinterherjagte. Nach einem Jahr im Knast schlief er neun, manchmal sogar zehn Stunden. Man konnte Bücher lesen oder fernsehen, ansonsten gab es praktisch nichts zu tun. Aus Langeweile hatte er häufig geheime Umfragen gestartet, bei denen ein Blatt Papier von einer Zelle zur anderen gereicht wurde, während die Wärter ein Nickerchen hielten. Einmal hatte er die neununddreißig Mithäftlinge in seinem Trakt zum Thema Schlaf befragt. Durchschnittlich elf Stunden, lautete das Ergebnis. Mo, der Denunziant, benötigte angeblich sechzehn Stunden pro Tag, und tatsächlich hörte man ihn schon um zwölf Uhr mittags häufig wieder schnarchen. Mad Cow Miller behauptete, mit nur drei Stunden auszukommen, doch der arme Hund hatte schon vor Jahren den Verstand verloren, sodass Joel seine Antworten nicht berücksichtigen konnte.
Doch es gab auch lange Phasen der Schlaflosigkeit, in denen er in die Dunkelheit starrte und über seine Fehler, Kinder und Enkel nachdachte, über die Demütigungen der Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft. Es gab Wochen, in denen er um Schlaftabletten bat, die ihm immer nur einzeln in die Zelle gebracht wurden, jedoch stets ohne die erwünschte Wirkung blieben. Joel hatte immer vermutet, dass es Placebos gewesen waren.
Aber insgesamt hatte er in diesen sechs Jahren zu viel geschlafen, und es schien, als wäre sein Körper noch immer ausgeruht. Dafür machte sein Gehirn Überstunden.
Nach einer Stunde, in der er kein Auge zugetan hatte, erhob er sich von seinem Bett und ging zu dem kleinen Tisch hinüber, wo er nach dem Mobiltelefon griff, das Luigi ihm gegeben hatte. Er schlenderte zum Fenster, schaute auf den Zettel, der auf die Rückseite des Geräts geklebt war, wählte die Nummer und wartete. Nach viermaligem Klingeln hörte er eine vetraute Stimme.
» Ciao, Marco. Come stai? «
»Wollte nur mal ausprobieren, ob das Ding funktioniert«, sagte Joel.
»Haben Sie geglaubt, ich würde Ihnen ein kaputtes Telefon geben?«
»Natürlich nicht.«
»Wie war der Mittagsschlaf?«
»Angenehm, äh, sehr angenehm. Wir sehen uns zum Abendessen.«
» Ciao. «
Wo war Luigi? Lungerte er irgendwo in der Nähe herum? Hatte er darauf gewartet, dass Joel anrief? Beobachtete er das Hotel? Wenn Stennett und der Fahrer noch in Treviso waren, hatte er – Luigi und Ermanno eingerechnet – eine bunte Kollektion von vier »Freunden«, deren Job darin bestand, ihn im Auge zu behalten.
Nach wie vor das Handy umklammernd, fragte er sich, wer sonst noch von dem Telefonat wusste. Wer hörte mit? Er blickte auf die Straße hinab. Wer war noch da unten? Nur Luigi?
Er schüttelte den Gedanken ab, setzte sich an den Tisch und dachte daran, dass er gern einen Kaffee trinken würde. Vielleicht einen doppelten Espresso – selbstredend keinen Cappuccino, um diese Uhrzeit. Aber er scheute sich, unten anzurufen. Er wusste, wie man »Guten Tag« und »einen Espresso« sagte, doch das würde auf der Gegenseite einen Schwall noch unbekannter Wörter provozieren.
Wie kann ein Mann ohne starken Kaffee überleben? Früher hatte ihm seine Lieblingssekretärin jeden Morgen um Punkt halb sieben die erste Tasse eines starken türkischen Gebräus gebracht, sechs Tage in der Woche. Er hätte sie fast geheiratet. Um zehn war er immer so aufgekratzt gewesen, dass er Gegenstände umhergeschmissen, Angestellte angebrüllt und drei Telefonate auf einmal geführt hatte, während Senatoren auf ein Gespräch mit ihm warteten.
Wie so oft machte es ihm keinen Spaß, sich an früher zu
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