Die Begnadigung
erinnern. Es gab so viele Erinnerungen. Während der sechs Jahre Einzelhaft hatte er einen erbitterten Krieg gegen sie geführt, um seine Vergangenheit auszulöschen.
Also dachte er wieder an den Kaffee, den er sich nicht zu bestellen traute, weil er Angst vor der Sprache hatte. Aber Joel Backman hatte sich noch nie vor etwas gefürchtet, und wenn man dreihundert Gesetzesvorlagen im Kopf behalten konnte, die im Labyrinth des Kongresses umherirrten, oder einhundert Telefonate am Tag führte und dabei kaum je in den Rolodex-Organizer oder das Adressbuch schauen musste, dann konnte man mit Sicherheit lernen, auf Italienisch Kaffee zu bestellen. Er arrangierte Ermannos Lehrmaterialien ordentlich auf dem Tisch und warf einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Lehrbuchs. Dann überprüfte er die Batterien des kleinen Rekorders, spielte mit den Kassetten herum und griff schließlich nach dem Buch. Lektion eins wurde mit der ziemlich schlichten Farbzeichnung eines Wohnzimmers eröffnet, die Papa, Mama und ihre Kinder vor dem Fernseher zeigte. Unter jedem Gegenstand stand in zwei Sprachen das entsprechende Wort – Tür und porta, Sofa und sofà, Fenster und finestra, Gemälde und quadro und so weiter. Der Junge war ragazzo, die Mutter madre, und der alte Mann mit dem Stock war der Großvater, il nonno.
Auf den nächsten Seiten folgten die Küche, das Schlafzimmer und das Bad. Nach einer Stunde schlich Joel, noch immer ohne Kaffee, durch das Zimmer, zeigte auf Gegenstände und flüsterte das jeweilige italienische Wort vor sich hin. Letto, Bett; lampada, Lampe; orologio, Uhr; sapone, Seife. Zur Abwechslung streute er auch schon ein paar Verben ein: parlare, sprechen; mangiare, essen; bere, trinken; pensare, denken. Dann trat er vor den Spiegel (specchio) des Badezimmers (bagno) und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass er wirklich Marco war. Marco Lazzeri. » Sono Marco, sono Marco « , wiederholte er. Zuerst kam er sich etwas lächerlich vor, doch der Gedanke musste jetzt beiseite geschoben werden. Es war zu riskant, an einem alten Namen festzuhalten, der lebensgefährlich werden konnte. Wenn ihn ein Namenswechsel rettete, hatte er nichts dagegen einzuwenden.
Marco, Marco, Marco.
In seinem neuen Wörterbuch fand er Bezeichnungen, die nicht in dem Lehrbuch vorkamen: Carta igienica hieß »Toilettenpapier«, guanciale »Kopfkissen«, soffitto »Decke«. Alles hatte einen neuen Namen, jeder Gegenstand in seiner kleinen Welt – alles, was er sah, wurde zu etwas anderem. Sein Blick wanderte von einem Eintrag zum nächsten, und er murmelte unablässig italienische Wörter vor sich hin.
Und er selbst? Er hatte ein Gehirn, cervello; eine Hand, mano; einen Arm, braccio; ein Bein, gamba. Er musste atmen, respirare; sehen, vedere; berühren, toccare; hören, sentire; schlafen, dormire; träumen, sognare. Aber jetzt griff er den Ereignissen vor und gebot sich Einhalt. Am nächsten Morgen würde Ermanno mit Lektion eins beginnen, wo erst einmal Grundsätzliches in Angriff genommen wurde: Begrüßungs- und Höflichkeitsfloskeln, die Zahlen von eins bis hundert, Wochentage und Monate, sogar das Alphabet. Die Hilfsverben »haben« (avere) und »sein« (essere) wurden im Präsens, im Präteritum und im Futur durchkonjugiert.
Als es Zeit war für das Abendessen, hatte Marco sich die komplette erste Lektion eingeprägt und sich ein Dutzend Mal die dazugehörenden Passagen der Kassette angehört. Draußen war es kühl. Glücklich und leicht benommen von der stundenlangen Paukerei spazierte er in Richtung Trattoria del Monte, wo Luigi bestimmt schon auf ihn wartete – an einem erstklassigen Tisch und mit exzellenten Vorschlägen für das Abendessen. Auf der Straße fielen ihm eine Vespa, ein Fahrrad, ein Hund und zwei Zwillingsschwestern auf, was ihn mit der deprimierenden Erkenntnis konfrontierte, dass er nichts davon in seiner neuen Sprache benennen konnte.
Das Wörterbuch lag im Hotelzimmer.
Doch die Aussicht auf das Essen ließ ihn unverzagt weitergehen, und er war weiterhin zuversichtlich, dass er, Marco, schon noch zu einem halbwegs respektablen Italiener werden würde.
Luigi saß an einem Ecktisch, und Marco begrüßte ihn mit einer schwungvollen Geste. » Buonasera, signore, come sta? «
» Sto bene, grazie, e Lei? « , sagte Luigi mit einem anerkennenden Lächeln.
» Molto bene, grazie « , antwortete Marco.
»Sie haben offensichtlich gelernt.«
»Ja, sonst gibt es leider nichts zu tun.«
Bevor Marco seine
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