Die Begnadigung
Serviette entfalten konnte, tauchte schon der Kellner mit einer Korbflasche mit dem roten Hauswein auf. Er füllte zwei Gläser und verschwand.
»Ermanno ist ein sehr guter Lehrer«, sagte Luigi.
»Haben Sie ihm vorher schon mal einen Job vermittelt?«
»Ja.«
»Kommt es oft vor, dass Sie Leute wie mich in Italiener verwandeln?«
»Hin und wieder«, antwortete Luigi lächelnd.
»Schwer zu glauben.«
»Glauben Sie, was Sie wollen, Marco. Jeder macht sich sein eigenes Bild.«
»Sie reden wie ein Spion.«
Ein Achselzucken, keine richtige Antwort.
»Für wen arbeiten Sie?«
»Was glauben Sie?«
»Für eine Organisation mit Großbuchstaben – CIA, FBI, NSA. Vielleicht auch für eine obskure Abteilung des militärischen Nachrichtendienstes.«
»Gehen Sie gern mit mir in diesen netten kleinen Restaurants essen?«, fragte Luigi.
»Habe ich eine andere Wahl?«
»Ja. Wenn Sie weiter solche Fragen stellen, werden wir uns nicht mehr treffen, und dann hängt Ihr schon jetzt gefährdetes Leben am seidenen Faden.«
»Ich dachte, es wäre Ihre Aufgabe, mein Leben zu schützen.«
»Ist es auch. Aber hören Sie auf, Fragen über mich zu stellen. Ich versichere Ihnen, dass Sie keine Antworten bekommen werden.«
Der Kellner tauchte auf, genau im richtigen Augenblick, und legte zwei große Speisekarten auf den Tisch. Welchen Verlauf das Gespräch auch genommen hätte, jetzt hatten sie ein anderes Thema. Marco schaute stirnrunzelnd auf die Namen der Gerichte und wurde erneut daran erinnert, wie bescheiden sein Wortschatz noch war. Unten auf der Seite erblickte er die Wörter caffè , vino und birra .
»Was können Sie empfehlen?«, fragte er.
»Der Koch kommt aus Siena, daher bevorzugt er die toskanische Küche. Risotto mit Steinpilzen eignet sich sehr gut als erster Gang. Die Bistecca à la Fiorentina habe ich schon probiert. Ist hervorragend.«
Marco klappte die Speisekarte zu und atmete die aus der Küche kommenden Düfte genussvoll ein. »Ich nehme beides.«
Luigi schob die Speisekarte zur Seite und winkte den Kellner herbei. Nachdem er die Bestellung aufgegeben hatte, tranken sie ein paar Minuten schweigend ihren Wein. »Vor ein paar Jahren«, begann Luigi, »wachte ich eines Morgens in einem kleinen Hotel in Istanbul auf. Ich war auf mich allein gestellt, hatte fünfhundert Dollar, einen falschen Pass und kannte nicht ein türkisches Wort. Der für mich zuständige Mann war in der Stadt, aber wenn ich Kontakt zu ihm aufgenommen hätte, dann hätte ich mir eine neue Existenz suchen müssen. In exakt zehn Monaten sollte ich in dem gleichen Hotel einen Freund treffen, der mich außer Landes bringen würde.«
»Klingt für mich nach einer Grundausbildung bei der CIA.«
»Falsch getippt.« Luigi schwieg kurz und trank einen Schluck Wein. »Da ich gern esse, habe ich die Kunst des Überlebens gelernt. Ich habe alles um mich herum aufgesogen, die Sprache, die Kultur, einfach alles. Ich kam ziemlich gut klar und passte mich meiner Umgebung an. Als ich den Freund zehn Monate später traf, hatte ich über tausend Dollar.«
»Italienisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch – welche Sprachen beherrschen Sie noch?«
»Russisch. Sie haben mich mal für ein Jahr in Wolgograd abgesetzt.«
Fast hätte Marco gefragt, wer »sie« seien, aber er verkniff es sich. Er hätte keine Antwort bekommen – außerdem glaubte er, es ohnehin zu wissen. »Und ich bin hier abgesetzt worden?«
Der Kellner stellte einen Brotkorb sowie eine kleine Schale mit Olivenöl auf den Tisch, und Luigi tunkte ein Stück Brot hinein und begann zu essen. Marcos Frage wurde entweder ignoriert oder war schon vergessen. Dann wurde ein Teller mit Schinken, Salami und Oliven gebracht, und das Gespräch stockte. Luigi war Spion oder in der Gegenspionage aktiv. Vielleicht arbeitete er auf eigene Faust oder für irgendeine Organisation; möglicherweise war er nur eine Kontaktperson – oder doch jemand, der die Strippen zog. Aber zuallererst war er Italiener. Wenn der Tisch gedeckt war, konnte nichts anderes seine Aufmerksamkeit beanspruchen.
Dadurch änderte sich das Gesprächsthema. Luigi erklärte die strengen Modalitäten einer vorschriftsmäßigen italienischen Mahlzeit. Zuerst kamen die Antipasti, beispielsweise ein Teller mit Schinken und Salami, wie er jetzt vor ihnen stand. Dann folgte der erste Gang, primo , in der Regel eine kleinere Portion Pasta, Reis, Suppe oder Polenta, durch die der Magen auf den Hauptgang, secondo , eingestimmt
Weitere Kostenlose Bücher