Die Begnadigung
fragte er Ermanno, als dieser mit zwei kleinen Tassen aus der Küche zurückkam.
» Non in inglese, Marco, non in inglese. «
Und damit war Englisch passé – ein abrupter, brutaler, endgültiger Abschied von seiner Muttersprache. Ermanno nahm auf einer Seite des Tisches Platz, Marco auf der anderen, und um Punkt halb neun begannen sie mit der ersten Lektion. Marco las den ersten Dialog auf Italienisch. Ermanno brachte behutsam ein paar Korrekturen an, war aber von der guten Vorbereitung seines Schülers ziemlich beeindruckt. Die Vokabeln hatte er alle im Kopf, nur an der Aussprache musste noch gearbeitet werden.
Eine Stunde später zeigte Ermanno auf verschiedene Gegenstände im Zimmer – Teppich, Buch, Illustrierte, Stuhl, Decke, Vorhang, Radio, Fußboden, Wand, Rucksack –, und Marco nannte problemlos das italienische Wort. Dann rasselte er – mit allmählich besserer Aussprache – die gesamte Liste von Höflichkeitsfloskeln herunter: Guten Tag. Wie geht’s? Gut, danke. Wir sehen uns. Auf Wiedersehen. Gute Nacht. Und dreißig weitere. Danach kamen die Wochentage und die Monate an die Reihe. Nach einer weiteren Stunde war die erste Lektion abgehakt, und Ermanno fragte, ob sie eine Pause einlegen sollten. Marco lehnte ab. Sie nahmen die zweite Lektion in Angriff, deren Vokabeln der Schüler ebenfalls bereits beherrschte. Als er den Dialog vorlas, war Ermanno erneut ziemlich beeindruckt.
»Sie haben gearbeitet«, murmelte er auf Englisch.
»Non in inglese, Ermanno, non in inglese«, sagte Marco. Er wollte es seinem Lehrer zeigen, und so hätte niemand begeisterter bei der Sache sein können als er. Um zwölf war Ermanno erschöpft und reif für eine Pause. Beide waren erleichtert, als es klopfte und Luigis Stimme aus dem Treppenhaus zu hören war. Er trat ein und sah die beiden vornübergebeugt an dem mit Lehrmaterialien bedeckten Tisch sitzen. Es sah fast so aus, als hätten sie die letzten Stunden mit Armdrücken verbracht.
» Come va? «, fragte er.
» È molto impegnativo «, antwortete Ermanno erschöpft. Es ist sehr anstrengend.
Marco stand langsam auf. » Vorrei pranzare. « Ich möchte gern Mittag essen.
Er hoffte, dass sie sich beim Mittagessen teilweise wieder auf Englisch unterhalten würden. Es wäre eine Erleichterung, wenn er sich nicht bei jedem einzelnen Wort abmühen müsste. Aber nachdem Luigi Ermannos begeisterte Zusammenfassung der morgendlichen Sitzung gehört hatte, fühlte er sich ermuntert, den Unterricht während der Mahlzeit fortzusetzen, zumindest anfangs. Auf der Speisekarte stand natürlich kein englisches Wort, und nachdem Luigi die Gerichte in unverständlichem Italienisch erklärt hatte, warf Marco die Hände in die Luft und sagte: »Jetzt reicht’s. Während der nächsten Stunde will ich kein italienisches Wort mehr hören oder sagen.«
»Und wie wollen Sie dann bestellen?«
»Ich esse dasselbe wie Sie.« Er trank einen Schluck Rotwein und versuchte, sich zu entspannen.
»Okay. Eine Stunde Englisch sollte in Ordnung sein.«
» Grazie «, sagte Marco automatisch.
9
W ährend des Vormittagsunterrichts am nächsten Tag wechselte Marco unvermittelt das Thema. »Sie sind kein Student«, sagte er mitten in einen besonders langweiligen Lehrbuchdialog hinein.
Ermanno blickte vom Übungsbuch auf und schwieg einen Moment. » Non in inglese, Marco « , entgegnete er dann. » Soltanto in italiano. «
»Ich hab die Nase voll von Italienisch, okay? Sie sind kein Student.«
Ermanno war kein Meister im Lügen, und seine Pause dauerte einen Augenblick zu lange. »Doch«, antwortete er mit dünner Stimme.
»Nein, das glaube ich nicht. Sie besuchen ganz offensichtlich keine Seminare, sonst hätten Sie nicht den ganzen Tag Zeit für den Unterricht mit mir.«
»Vielleicht finden meine Seminare abends statt. Warum ist das so wichtig?«
»Sie besuchen keine Seminare. In dieser Wohnung gibt es keine Lehrbücher, keine Studentenzeitung, nichts von dem Kram, der bei Studenten normalerweise herumliegt.«
»Vielleicht ist es in dem anderen Zimmer.«
»Zeigen Sie’s mir.«
»Warum? Warum ist das so wichtig?«
»Weil ich glaube, dass Sie für dieselben Leute arbeiten wie Luigi.«
»Und wenn das so wäre?«
»Ich will wissen, wer die sind.«
»Angenommen, ich weiß es nicht? Außerdem, was geht Sie das an? Sie sollen bei mir nur Italienisch lernen.«
»Wie lange leben Sie schon in dieser Wohnung?«
»Ich muss Ihre Fragen nicht beantworten.«
»Ich glaube, Sie sind erst letzte
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