Die Begnadigung
Rattern und Klingeln der Kasse hinweg übergoss ihn die Kassiererin mit einem Wortschwall, von dem er rein gar nichts verstand. Trotzdem erwiderte er verbindlich »Sì« und reichte ihr einen Zwanzig-Euro-Schein, der zweifellos ausreichen sollte. Es funktionierte. Mit dem Wechselgeld bekam er einen Beleg gereicht.
» Numero sessantasette « , sagte sie. Siebenundsechzig.
Mit dem Beleg in der Hand ging er langsam um die Theke herum. Niemand gaffte, er schien gar nicht aufzufallen. Ging er tatsächlich als Italiener, als Einheimischer durch? Oder war er so unverkennbar ein Ausländer, dass man ihn absichtlich ignorierte? Er hatte sich angewöhnt, darauf zu achten, wie andere Männer gekleidet waren, und fand, dass er mit seinem Outfit durchaus mithalten konnte. Luigi hatte ihm erzählt, dass Italiener, besonders Norditaliener, viel mehr Wert auf ihr Äußeres legten als Amerikaner. Sie bevorzugten maßgeschneiderte Jacketts und Hosen, edle Pullover und Krawatten zum Hemd; niemand hier trug Jeans und Sweatshirt.
Luigi – oder wer auch immer seine Garderobe zusammengestellt hatte, für die zweifellos der amerikanische Steuerzahler aufgekommen war – hatte seine Sache gut gemacht. Für einen Mann, der sechs Jahre lang in Gefängnismontur herumgelaufen war, hatte sich Marco den italienischen Schick erstaunlich schnell zu Eigen gemacht.
Er sah zu, wie die bestellten Speisen eine nach der anderen auf der Theke neben dem Grill auftauchten.
Nach rund zehn Minuten erschien ein dick belegtes Brötchen. Der Mann an der Ausgabe nahm es, riss einen Zettel ab und rief: » Numero sessantasette. « Wortlos trat Marco heran und zeigte seinen Beleg vor. Als Nächstes kam die Coke. Er setzte sich an einen kleinen Ecktisch und genoss es, allein und unbehelligt sein Abendessen zu sich zu nehmen. Das Lokal war laut und voll, offenbar kamen zumeist Stammgäste aus der Nachbarschaft hierher. Man begrüßte sich mit lautem Hallo, küsste und umarmte sich ausgiebig, und dasselbe wiederholte sich beim Abschied, wo das Ritual sogar meist noch länger dauerte. Das Warten in der Schlange funktionierte reibungslos, auch wenn man in Italien offensichtlich eine gänzlich andere Vorstellung davon hatte als in den Staaten. Zu Hause hätte es bei dem chaotischen Durcheinander längst scharfe Worte von den Umstehenden oder Flüche von der Kassiererin gegeben.
In einem Land, in dem ein dreihundert Jahre altes Haus als neu galt, hatte Zeit eine andere Bedeutung. Man genoss sein Essen selbst an einem Ort wie diesem. Marcos Tischnachbarn hatten für Pizza und Panini scheinbar endlos Zeit – es gab ja so viel zu erzählen.
Das geistlose Leben im Gefängnis hatte Joel abgestumpft. Er war nur deshalb nicht verrückt geworden, weil er acht Bücher pro Woche gelesen hatte, allerdings mehr um der Realität zu entfliehen als um sich weiterzubilden. Nach zwei Tagen, in denen er so intensiv Vokabeln gelernt, Verben konjugiert, die Aussprache geübt und zugehört hatte wie noch nie in seinem Leben, war er geistig ausgelaugt und vollkommen erschöpft.
Er ergab sich dem italienischen Brausen und Tosen und versuchte erst gar nicht, etwas davon zu verstehen, sondern erfreute sich stattdessen einfach an Rhythmus und Melodie der Wortkaskaden, die immer wieder von Gelächter durchsetzt waren. Ab und an erkannte er ein Wort, vor allem bei Begrüßungen und Abschieden, und verbuchte das als persönlichen Fortschritt. Die Familien und Freunde zusammen zu sehen machte ihm seine Einsamkeit bewusst, doch solche Gedanken wollte er gar nicht erst zulassen. Einsamkeit war, dreiundzwanzig Stunden am Tag in einer Zelle zu sitzen, praktisch keine Post zu bekommen und als einzige Gesellschaft ein billiges Taschenbuch zu haben. Dagegen war das hier ein Sonntagsausflug.
Er versuchte, kleine Portionen von seinem Panino abzubeißen, um es möglichst lange genießen zu können, aber irgendwann war es unwiederbringlich aufgegessen. Er nahm sich vor, beim nächsten Mal Pommes frites zu bestellen, weil man damit auch noch spielen konnte, wenn sie längst kalt waren. Auf diese Weise ließ sich eine Mahlzeit schier endlos in die Länge ziehen, jedenfalls weit über das Maß hinaus, das bei ihm zu Hause als normal galt. Widerwillig stand er auf. Nach etwa einer Stunde ließ er die heimelige Wärme des Lokals hinter sich und ging zu dem vereinbarten Treffpunkt am Springbrunnen, der abgeschaltet war, damit das Wasser nicht gefror. Ein paar Minuten später tauchte Luigi auf, als hätte er
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