Die Begnadigung
alles war besser als das Gefängnis, aber auch dieses Leben würde seinen Tribut fordern.
Wie sollte ihn überhaupt jemand so schnell gefunden haben? Er war erst seit vier Tagen in Treviso.
Nachdem er die Fassung einigermaßen wiedergewonnen hatte, ging er langsam auf den Flur, die Treppe hinunter, durch die Lobby, wo er dem gaffenden Rezeptionisten wortlos zunickte, und schließlich zur Tür hinaus. Luigi nahm seine Tasche und warf sie in den Kofferraum seines kleinen Fiats. Bis das erste Wort gesprochen wurde, hatten sie die Außenbezirke von Treviso erreicht.
»Okay, Luigi, was ist los?«, wollte Marco wissen.
»Szenenwechsel.«
»Das hab ich kapiert. Warum?«
»Aus gutem Grund.«
»Oh, das erklärt natürlich alles.«
Luigi lenkte mit der linken Hand und schaltete mit der rechten wild herum. Während er das Gaspedal fast ganz durchgedrückt hielt, ignorierte er die Bremse vollständig. Was war das nur für ein sonderbares Volk, das zweieinhalb Stunden lang gemütlich beim Essen sitzen konnte, um dann ins Auto zu steigen und in halsbrecherischem Tempo in zehn Minuten durch die ganze Stadt zu rasen?
Sie fuhren eine Stunde, hauptsächlich Richtung Süden, wobei sie die Autobahnen mieden. »Ist jemand hinter uns?«, fragte Marco jedes Mal, wenn sie auf zwei Rädern um eine Kurve schlitterten.
Luigi schüttelte nur den Kopf. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt, die Brauen zusammengeschoben, die Kiefer fest aufeinander gepresst, jedenfalls solange die Zigarette nicht im Mund steckte. Er schaffte es irgendwie, wie ein Geisteskranker zu fahren und gleichzeitig in aller Ruhe zu rauchen. Er war offenbar fest entschlossen zu schweigen, was bei Marco den Wunsch, sich zu unterhalten, nur verstärkte.
»Sie versuchen, mir Angst einzujagen, stimmt’s, Luigi? Wir spielen James Bond – Sie sind der coole Agent und ich der arme Trottel mit den Geheimnissen. Und damit ich nicht abtrünnig werde und auf eigene Faust losziehe, setzen Sie mich unter Druck. Ich weiß, was da abläuft.«
»Wer hat Jacy Hubbard ermordet?«, fragte Luigi und bewegte kaum die Lippen dabei.
Backman hatte plötzlich doch keine Lust mehr, sich zu unterhalten. Die Erwähnung dieses Namens ließ ihn einen Moment lang förmlich erstarren, und ein Bild erschien vor seinem geistigen Auge: ein Polizeifoto von Hubbard, der auf dem Grab seines Bruders lag, der halbe Kopf weggeschossen, Blut auf dem Grabstein, auf seinem weißen Hemd – überall.
»Sie kennen die Akte«, sagte Backman. »Es war Selbstmord.«
»Ach ja. Wenn Sie das glauben, warum haben Sie dann auf schuldig plädiert, um in Schutzhaft zu kommen?«
»Ich hatte Angst. Selbstmord kann ansteckend sein.«
»Wie wahr.«
»Sie meinen also, die Jungs, die Hubbards Selbstmord inszeniert haben, sind jetzt hinter mir her?«
Zur Bestätigung zuckte Luigi mit den Schultern.
»Die haben also irgendwie herausgefunden, dass ich mich in Treviso verstecke?«
»Es ist jedenfalls besser, kein Risiko einzugehen.«
Luigi wollte nicht in die Details gehen; aber vielleicht gab es ja auch keine. Joel blickte unwillkürlich über die Schulter auf die dunkle Straße hinter ihnen. Luigi warf einen Blick in den Rückspiegel und setzte ein wissendes Grinsen auf, als wollte er sagen: Ja, sie sind da, irgendwo hinter uns.
Joel sank ein paar Zentimeter tiefer in seinen Sitz und schloss die Augen. Zuerst waren zwei seiner Mandanten gestorben. Safi Mirza war vor einem Nachtklub in Georgetown erstochen worden, drei Monate nachdem er Joel eingeschaltet und ihm die einzige Kopie von »JAM« ausgehändigt hatte. Die Messerstiche allein wären tödlich gewesen, doch es war zusätzlich ein Gift injiziert worden, vermutlich beim Zustoßen mit der Klinge. Keine Zeugen. Keine Hinweise. Einer von vielen ungeklärten Mordfällen in Washington. Einen Monat später verschwand Fazal Sharif in Karatschi spurlos.
»JAM« war mit Sicherheit eine Milliarde Dollar wert, nur würde von dem Geld niemals jemand profitieren.
1998 hatte die Kanzlei Backman, Pratt & Bolling Ex-Senator Jacy Hubbard für eine Million Dollar im Jahr engagiert, und seine erste Aufgabe bestand darin, »JAM« an den Mann zu bringen. Um zu zeigen, dass er sein Geld wert war, verschaffte er sich mit mehr oder weniger lauteren Mitteln Zutritt zum Pentagon, um die Existenz von »Neptun« bestätigt zu bekommen – ein ebenso unbeholfener wie unglückseliger Versuch. Einem seiner Maulwürfe gelang es, Dokumente – als geheim unter Verschluss gehaltene
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