Die Begnadigung
geprägt war. Die Stadt hatte eine bewegte Geschichte, und Luigi hatte versprochen, ihm davon zu erzählen.
Marco entdeckte ein kleines grünes Neonschild, das beiläufig auf eine Bar Fontana hinwies. Als er darauf zuging, stieg ihm das Aroma starken schwarzen Kaffees in die Nase. Das Fontana war in die Ecke eines altes Hauses gequetscht – »alt« brauchte man eigentlich gar nicht zu erwähnen, da in dieser Gegend alle Gebäude alt waren. Die Tür öffnete sich widerstrebend. Als Marco eingetreten war, musste er beinahe lächeln angesichts der vielen Gerüche, die ihm entgegenschlugen – Kaffee, Zigaretten, Gebäck und heißes Fett von einem Grill im hinteren Teil. Doch dann erfasste ihn wieder die gewohnte Sorge beim Gedanken daran, in der fremden Sprache bestellen und sich verständigen zu müssen.
Im Fontana gab es weder Studenten noch Frauen. Die Kundschaft war ausschließlich männlich, in seinem Alter oder darüber, eher nachlässig gekleidet, und spätestens an den zahllosen Bärten und Pfeifen war zu erkennen, dass es sich um die Stammkneipe der Universitätsdozenten handelte. Zwei oder drei Gäste blickten in seine Richtung, doch in einem Viertel mit einhunderttausend Studenten fiel ein Fremder nicht weiter auf.
Marco ging zum letzten Tisch ganz hinten im Café durch. Als er sich schließlich – die Wand im Rücken – auf einen freien Platz gezwängt hatte, saß er Schulter an Schulter mit seinen Nachbarn, die beide in eine Zeitung versunken waren und ihn nicht zu bemerken schienen. Luigi hatte ihm in einem seiner Vorträge über italienische Kultur erläutert, dass Europäer eine gänzlich andere Vorstellung von Raum und zwischenmenschlichem Abstand hätten als Amerikaner. Raum wurde in Europa geteilt, nicht verteidigt. Tische nutzte man gemeinsam, ebenso wie die Luft – Rauchen störte hier niemanden. Autos, Häuser, Busse, Wohnungen, Cafés – alle diese »Räume« waren eng, ergo voll und wurden bereitwillig mit anderen geteilt. Es wurde keineswegs als aggressiv aufgefasst, wenn man mit einem Bekannten beim Gespräch Tuchfühlung hielt, die persönliche Sphäre des anderen wurde dadurch nicht verletzt. Man redete mit Händen und Füßen, umarmte sich und tauschte sogar hin und wieder Küsschen aus.
Für Amerikaner – obwohl ebenfalls ein freundliches Volk – war diese Form öffentlicher Intimität schwer nachzuvollziehen.
Außerdem war Marco noch nicht bereit, Fremde zu nah an sich heranzulassen. Er griff nach der zerknitterten Speisekarte, die auf dem Tisch lag, und entschied sich für das erste Gericht, das er erkannte. Der Kellner kam und blickte auf ihn herab. » Espresso « , sagte er so lässig wie möglich, » e un panino al formaggio. «
Der Kellner quittierte die Bestellung mit einem Nicken. Marcos Aussprache schien niemanden zu interessieren. Keiner senkte neugierig die Zeitung. Es war ihnen egal, denn sie hörten ständig fremde Akzente. Als Marco Lazzeri die Speisekarte wieder auf den Tisch legte, entschied er, dass ihm Bologna gefiel, auch wenn es angeblich ein Kommunistennest war. Studenten und Dozenten aus aller Welt kamen und gingen, da fiel ein Fremder mehr nicht auf, sondern wurde als Teil dieser Kultur verstanden. Vielleicht galt es sogar als etwas Besonderes, einen Akzent zu haben und sich anders anzuziehen. Und sicher war es ganz normal, hier zu sein, um die Sprache zu erlernen.
Ausländer verrieten sich meist dadurch, dass sie versuchten, sich möglichst unauffällig umzublicken, um alles in sich aufzunehmen. Marco war entschlossen, sich im Fontana nicht auf diese Weise zu verraten. Er zog ein Vokabelheft heraus und bemühte sich, Szenerie und Menschen zu ignorieren. Ermanno sagte immer wieder, wenn man Italienisch oder irgendeine andere romanische Sprache beherrschen wolle, müsse man vor allem die Verben kennen. Das Vokabelheft enthielt die eintausend wichtigsten Verben des Italienischen, und Ermanno war der Meinung, dass es eine gute Grundlage bilde.
So zäh das Auswendiglernen auch war, Marco fand in gewisser Weise Gefallen daran. Er empfand es als befriedigend, vier Seiten durchzugehen – oder einhundert Verben, Substantive, Adjektive – und immer die richtige Entsprechung zu wissen. Wenn er ein Wort falsch gesagt oder ausgesprochen hatte, kehrte er an den Anfang zurück und begann, gewissermaßen als Strafe, wieder von vorn. Als Espresso und Panino kamen, hatte er dreihundert Verben geschafft. Er trank einen Schluck und wandte sich sofort wieder seinem
Weitere Kostenlose Bücher