Die Begnadigung
Großeltern sind aus Mailand dorthin ausgewandert. Ich habe zwar italienische Wurzeln, aber die Sprache habe ich nie gelernt.«
»Italienisch ist nicht schwer«, sagte Rudolph, als sein Kaffee kam. Er nahm die kleine Tasse und versenkte sie tief in seinem Bart, wo sie offenbar die Lippen traf. Er schmatzte einmal und beugte sich vor, als wollte er etwas Vertrauliches sagen. »Sie klingen nicht nach Kanada.«
Seine Augen schienen Marco anzulachen.
Marco setzte seit einer Weile alles daran, italienisch auszusehen, zu handeln und zu klingen. Einen Kanadier aus sich zu machen war ihm noch nicht in den Sinn gekommen. Wie klang kanadisches Englisch überhaupt? Er nahm noch einen großen Bissen. »Ich kann’s nicht ändern«, sagte er mit vollem Mund. »Was hat Sie denn von Austin hierher verschlagen?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Marco zuckte die Schultern, als wollte er andeuten, dass er reichlich Zeit habe.
»Ich war Professor an der juristischen Fakultät der Universität von Texas. Als sie herausfanden, dass ich Kommunist bin, wollten sie mich loswerden. Ich wehrte mich. Sie übten Druck aus. Ich wurde lauter, vor allem im Hörsaal. Anfang der Siebziger waren Kommunisten in Texas nicht gerade gern gesehen, wobei ich bezweifle, dass das heute anders ist. Schließlich kündigten sie mir und jagten mich aus der Stadt. Und so kam ich nach Bologna, ins Herz des italienischen Kommunismus.«
»Was lehren Sie hier?«
»Rechtswissenschaft. Radikal linke Rechtstheorien.«
Eine weiß gepuderte Brioche kam, und Rudolph verschlang mit dem ersten Biss die Hälfte. Aus den wirren Tiefen seines Bartes lösten sich ein paar Krümel.
»Und sind Sie immer noch Kommunist?«
»Selbstverständlich. Einmal Kommunist, immer Kommunist. Warum?«
»Nun, der Kommunismus hat sich überlebt, finden Sie nicht? War wohl doch keine so gute Idee. Ich meine, sehen Sie nur, was durch Stalin aus Russland geworden ist. Oder Nordkorea. Die Menschen hungern, und der Diktator lässt Atomsprengköpfe bauen. Kuba hinkt fünfzig Jahre hinter dem Rest der Welt her. Die Sandinisten in Nicaragua wurden abgewählt. China übernimmt die freie Marktwirtschaft, weil das alte System zusammengebrochen ist. Es funktioniert einfach nicht, oder?«
Die Brioche hatte ihren Reiz verloren. Die grünen Augen waren zu Schlitzen verengt. Marco sah schon eine leidenschaftliche Ansprache auf sich zukommen, die vermutlich mit wüsten Beschimpfungen in zwei Sprachen gespickt sein würde. Er blickte sich rasch um. Es war davon auszugehen, dass die Kommunisten im Fontana in der Überzahl waren.
Andererseits – was hatte der Kapitalismus eigentlich für ihn getan?
Rudolph stieg in seinem Ansehen, als er nur grinsend mit den Achseln zuckte. »Mag sein«, sagte er mit einem Ausdruck von Wehmut, »aber es war schon sehr lustig, vor dreißig Jahren Kommunist zu sein, vor allem in Texas. Das waren noch Zeiten.«
Marco nickte in Richtung der Zeitung. »Lesen Sie Zeitungen von zu Hause?«
»Mein Zuhause ist hier, mein Freund. Ich bin italienischer Staatsbürger und war seit zwanzig Jahren nicht mehr in den Staaten.«
Marco war erleichtert. Seit seiner Freilassung hatte er keine amerikanische Zeitung in der Hand gehabt, aber er nahm an, dass über ihn berichtet worden war, zweifellos auch mit alten Fotos. Seine Vergangenheit schien vor Rudolph offenbar sicher zu sein.
Er fragte sich, ob auch er eine Zukunft als italienischer Staatsbürger hatte – und ob er überhaupt eine Zukunft hatte. Würde er in zwanzig Jahren immer noch durch Italien streifen, den Blick gehetzt über die Schulter gewandt?
»Sie sagten ›zu Hause‹«, unterbrach Rudolph seine Gedanken. »Meinen Sie damit die Staaten oder Kanada?«
Marco lächelte und nickte in die Ferne. »Den Kontinent da drüben.« Ein kleiner, aber unentschuldbarer Fehler. »Das ist mein erster Besuch in Bologna«, sagte er, um rasch das Thema zu wechseln. »Ich hatte keine Ahnung, dass die Stadt Zentrum des italienischen Kommunismus ist.«
Rudolph senkte die Tasse und machte ein schmatzendes Geräusch mit seinen tief verborgenen Lippen. Dann strich er sich mit beiden Händen über den Bart, wie ein alter Kater, der seine Schnurrhaare putzte. »Bologna ist vieles«, sagte er, als setzte er zu einem längeren Vortrag an. »Es war von jeher das Zentrum des freien Denkens und des intellektuellen Lebens in Italien, daher sein erster Beiname, la dotta, ›die Gelehrte‹. Dann wurde die Stadt Heimat der politischen Linken,
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