Die Begnadigung
Heftchen zu, als wären ihm die Vokabeln jetzt viel wichtiger als Essen und Trinken.
Er war gerade beim vierhundertsten Verb angekommen, da tauchte Rudolph auf.
Als an Marcos rundem Tischchen ein Stuhl frei wurde, erschien ein kleiner, dicker Mann, der von Kopf bis Fuß in ausgeblichenes Schwarz gehüllt war. Wilde Büschel krausen grauen Haares standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab und wurden nur geringfügig von einer schwarzen Baskenmütze gebändigt, die oben auf dem Wust balancierte. » Buongiorno. È libera questa sedia? « , fragte er höflich und deutete auf den Stuhl. Marco hatte den Satz nicht genau verstanden, aber es war offensichtlich, was gemeint war. Dann drang das Wort libera in sein Bewusstsein, und er nahm an, dass es »frei« bedeutete.
» Sì « , entgegnete er akzentfrei. Daraufhin nahm der Mann seinen langen schwarzen Umhang ab, hängte ihn über die Stuhllehne und quetschte sich auf den Stuhl. Als er endlich saß, waren sie nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Raum wird hier anders wahrgenommen, sagte sich Marco immer wieder. Der Mann legte ein Exemplar von L’Unità auf den Tisch, der dabei gefährlich ins Wanken geriet. Marco bangte eine Sekunde lang um seinen Espresso. Um nicht angesprochen zu werden, versenkte er sich noch tiefer in Ermannos Verben.
»Amerikaner?«, fragte sein neuer Bekannter in akzentfreiem Englisch.
Marco ließ das Buch sinken und blickte in die leuchtenden Augen dicht vor ihm. »Fast. Kanadier. Wie kommen Sie darauf?«
Der andere nickte in Richtung des Lehrbuches. »Englisch-Italienisch. Sie sehen nicht wie ein Engländer aus, daraus schließe ich, dass Sie Amerikaner sind.« Seinem Akzent nach zu urteilen, kam er wahrscheinlich nicht aus dem Mittleren Westen der Staaten. Auch nicht aus New York oder New Jersey oder dem Süden, aus Texas, Appalachia oder New Orleans. Damit waren weite Teile des Landes schon einmal ausgeschlossen. Blieb zum Beispiel noch Kalifornien. Marco wurde nervös. Bald würde das große Lügen beginnen, und er hatte noch viel zu wenig Übung.
»Und woher kommen Sie?«, fragte er.
»Zuletzt war ich in Austin, Texas. Das war vor dreißig Jahren. Ich heiße übrigens Rudolph.«
»Guten Morgen, Rudolph, ist mir ein Vergnügen. Ich bin Marco.« Zum Sandkastenspielen genügte der Vorname. »Sie klingen nicht nach Texas.«
»Zum Glück«, entgegnete Rudolph mit einem sympathischen Lächeln, das seinen Mund unter dem Haarwust erahnen ließ. »Ursprünglich bin ich aus San Francisco.«
Der Kellner beugte sich zu ihm, und er bestellte in schnellem Italienisch schwarzen Kaffee und vermutlich etwas zu essen. Marco verstand keine Silbe und war somit ausgeschlossen von diesem kurzen Wortwechsel.
»Was hat Sie nach Bologna geführt?«, erkundigte sich Rudolph dann. Er schien begierig darauf, sich zu unterhalten. Wahrscheinlich kam es nicht so häufig vor, dass er in seinem Lieblingscafé einen Landsmann traf.
Marco senkte das Buch. »Ich reise für ein Jahr in Italien herum, schaue mir die Sehenswürdigkeiten an und versuche, ein bisschen was von der Sprache aufzuschnappen.«
Rudolphs Gesicht war zur Hälfte von einem wild wachsenden Bart überwuchert, der bis über die Wangenknochen reichte und in alle Richtungen spross. Seine Nase war kaum zu sehen, ebenso wie sein Mund. Aus irgendeinem Grund – der sicher für immer ein Geheimnis bleiben würde, da niemals jemand auf die Idee käme, ihn danach zu fragen – rasierte er sich einen Teil des Kinns bis zur Unterlippe. Von diesem jungfräulichen Ort abgesehen, durften die krausen Borsten ungehindert sprießen und wurden offensichtlich auch selten gewaschen. Auf seinem Oberkopf sah es genauso aus – unter dem Rand der Baskenmütze quollen rundherum dichte Büschel grauen Haares hervor.
Da seine Gesichtszüge weitgehend verdeckt waren, zogen seine Augen die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Dunkelgrün strahlten sie unter dichten herabhängenden Brauen hervor, und es schien ihnen nichts zu entgehen.
»Wie lang sind Sie schon in Bologna?«, wollte Rudolph wissen.
»Seit gestern. Ich habe kein festes Programm. Und Sie, was hat Sie hierher geführt?«
Die Augen tanzten, ohne je zu zwinkern. »Ich bin seit dreißig Jahren hier. Ich unterrichte an der Universität.«
Endlich biss Marco in sein Käsebrötchen, teils aus Hunger, vor allem aber, weil er wollte, dass Rudolph weiterredete.
»Wo sind Sie zu Hause?«
»Toronto«, antwortete Marco der Legende gemäß.
»Meine
Weitere Kostenlose Bücher