Die Begnadigung
Papiere unterzeichnet hatte.
Vielleicht hatte Critz zu viel gewusst.
Drei Stunden später verließ Sandberg Washington-Dulles und flog Richtung London.
15
L ange vor Sonnenaufgang erwachte Marco wieder einmal an einem fremden Ort in einem fremden Bett. Er brauchte eine ganze Weile, um seine Gedanken zu ordnen, sich die Ortswechsel der letzten Zeit ins Gedächtnis zu rufen und seine absurde Gesamtsituation zu erfassen – und bei alledem nicht an die Vergangenheit zu denken, während er gleichzeitig überlegte, was wohl in den kommenden zwölf Stunden passieren mochte. Die Nacht war unruhig gewesen. Er hatte ein paar Stunden gedöst, vielleicht vier oder fünf, genau konnte er es nicht sagen, weil in dem angenehm warmen kleinen Zimmer vollkommene Dunkelheit herrschte. Er nahm die Kopfhörer ab; kurz nach Mitternacht war er eingeschlafen, wie gewöhnlich frohsinnige italienische Übungsdialoge in den Ohren.
Für die Wärme war er sehr dankbar. Sie hatten ihn in Rudley erbärmlich frieren lassen, und das letzte Hotelzimmer war wieder kalt gewesen. Die neue Wohnung hatte dicke Wände und dichte Fenster, und die Heizung lief auf Hochtouren. Als er der Meinung war, dass er den vor ihm liegenden Tag zur Genüge durchgeplant hatte, senkte er langsam seine Füße auf den warmen Fliesenboden und dankte Luigi im Geiste noch einmal für die neue Unterkunft.
Wie lange er hier bleiben würde, war nicht sicher, genauso wie alles andere in der Zukunft, die sie für ihn bestimmt hatten. Er schaltete die Lampe ein und sah auf seine Uhr – kurz vor fünf. Dann machte er im Bad das Licht an und musterte sich im Spiegel. Die Stoppeln über seiner Oberlippe, um seinen Mund herum und am Kinn waren erheblich grauer, als er erwartet hatte. Seit einer Woche ließ er sie nun stehen, und es war klar, dass sein Kinnbart hauptsächlich grau und nur von ein paar wenigen dunkelbraunen Sprenkeln durchsetzt sein würde. Zum Teufel damit. Er war zweiundfünfzig. Das modische Bärtchen war Teil seiner Tarnung und verlieh ihm eine gewisse distinguierte Würde. Mit seinem schmalen Gesicht, den eingefallenen Wangen, dem Bürstenschnitt und der schicken rechteckigen Designerbrille ging er gut und gern als Marco Lazzeri durch – in Bologna, in Mailand, in Florenz und jeder anderen Stadt, die er noch besuchen würde.
Eine Stunde später trat er auf die Straße hinaus, unter die kalten, schweigsamen Arkaden, deren Erbauer seit dreihundert Jahren tot waren. Der Wind war eisig und schneidend, und Marco nahm sich zum wiederholten Male vor, sich bei seinem Kontaktmann darüber zu beschweren, dass er keine richtige Winterkleidung hatte. Er las weder Zeitung, noch sah er fern, sodass er keine Ahnung hatte, was der Wetterbericht vermeldete. Er wusste nur, dass es täglich kälter wurde.
Unter den niedrigen Bogengängen der Via Fondazza hastete er Richtung Universität. Außer ihm war niemand unterwegs. Den Stadtplan hatte er tief in seiner Tasche vergraben. Wenn er sich verlief, konnte er ihn immer noch hervorholen und sich die kleine Niederlage eingestehen. Doch vorerst war er entschlossen, die Wege ohne Hilfsmittel zu finden und sich einzuprägen. Dreißig Minuten später, die Sonne sandte inzwischen immerhin dämmriges Licht aus, erreichte er die Via Irnerio am nördlichen Rand des Universitätsviertels. Zwei Querstraßen weiter Richtung Osten, dann schimmerte ihm das hellgrüne Schild des Fontana entgegen. Durch das Fenster sah er einen grauen Haarschopf leuchten. Rudolph war bereits da.
Aus Gewohnheit wartete Marco einen Augenblick vor der Tür. Er drehte sich um, blickte die Via Irnerio hinunter, ob sich vielleicht ein lautloser Killer aus dem Schatten schälte. Als niemand kam, trat er ein.
»Mein Freund Marco«, sagte Rudolph lächelnd. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
Das Café war etwa halb voll – wieder das gleiche akademische Publikum, vertieft in die Morgenzeitung, versunken in die eigene Welt. Marco bestellte einen Cappuccino, während Rudolph seine Meerschaumpfeife stopfte. Bald erfüllte aromatischer Duft ihre kleine Nische.
»Habe Ihre Nachricht bekommen«, sagte Rudolph und blies eine Rauchwolke über den Tisch. »Tut mir Leid, dass wir uns verpasst haben. Wo waren Sie denn?«
Marco war nirgendwo gewesen, aber als gut erholter kanadischer Tourist mit italienischen Wurzeln hatte er natürlich einen Ausflugsbericht in petto. »Ich war ein paar Tage in Florenz.«
»Ah, Firenze … eine wunderschöne Stadt.«
Eine Zeit lang redeten
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