Die Begnadigung
sie über Florenz, und Marco dozierte klug über Kunst, Geschichte und Sehenswürdigkeiten der Stadt, obwohl er sie nur aus dem billigen Stadtführer kannte, den Ermanno ihm geliehen hatte.
Das Heftchen war natürlich in Italienisch verfasst, sodass er erst einmal stundenlang mit einem Wörterbuch dagesessen und sich ein paar Informationen zusammengereimt hatte, die er jetzt souverän einsetzte, als wäre er wochenlang dort gewesen.
Die Tische füllten sich allmählich, und wer keinen Platz mehr bekam, drängte sich um die Bar. Luigi hatte Marco ganz zu Anfang erklärt, dass einem in Europa der Tisch, den man einmal besetzt habe, für den Rest des Tages gehöre. Niemand werde hier von seinem Stuhl vertrieben, damit ein neuer Gast sich setzen könne. Eine Tasse Kaffee, eine Zeitung, etwas zu rauchen, und man konnte für immer sitzen bleiben, während andere kamen und gingen.
Sie bestellten noch eine Runde, und Rudolph stopfte erneut seine Pfeife. Jetzt fielen Marco zum ersten Mal die Nikotinflecken auf den wild wuchernden Barthaaren neben seinem Mund auf. Auf dem Tisch lagen drei Morgenzeitungen, alle italienisch.
»Gibt es hier in Bologna eine gute englischsprachige Zeitung?«, fragte Marco.
»Warum fragen Sie?«
»Ach, ich weiß nicht. Manchmal interessiert es mich schon, was jenseits des Atlantiks passiert.«
»Ich kaufe mir gelegentlich die Herald Tribune, und dann bin ich jedes Mal wieder heilfroh, dass ich hier lebe, weit weg von Kriminalität, Verkehr, Umweltverschmutzung, Politik und Skandalen. Die amerikanische Gesellschaft ist verrottet. Und die Regierung ist der Gipfel der Scheinheiligkeit – von wegen beste Demokratie der Welt. Ha! Im ganzen Kongress sitzt doch keiner, der nicht von den großen Geldsäcken geschmiert wird.«
Er sah aus, als wollte er im nächsten Moment ausspucken, zog dann aber stattdessen an seiner Pfeife und begann, auf dem Mundstück zu kauen. Marco hielt den Atem an und rechnete mit einer weiteren Hasstirade gegen den amerikanischen Staat. Einen Augenblick lang passierte nichts, dann nippten sie beide an ihrem Kaffee.
»Ich hasse die US-Regierung«, brummte Rudolph verbittert.
Jetzt aber aufgepasst, dachte Marco. »Was ist mit der kanadischen?«, fragte er.
»Verdient bessere Noten. Leidlich bessere.«
Marco heuchelte Erleichterung und beschloss, das Thema zu wechseln. Er denke darüber nach, als Nächstes Venedig zu besuchen, sagte er. Natürlich war Rudolph schon viele Male dort gewesen und hatte gute Tipps. Marco machte sich Notizen, als wollte er am liebsten sofort in den nächsten Zug springen. Und dann war da noch Mailand, wobei Rudolph nicht viel von dieser Stadt hielt, wegen der »Faschisten«, die dort herumschlichen. »Es war das Machtzentrum Mussolinis, wissen Sie.« Er hatte sich vorgebeugt, als wäre unter den anderen Kommunisten im Café allein bei der Erwähnung des Diktators sofort ein Tumult ausgebrochen.
Als sich abzeichnete, dass Rudolph durchaus geneigt war, den Rest des Vormittags hier sitzen zu bleiben, zog Marco es vor, sich zu verabschieden. Sie verabredeten sich für den folgenden Montag, gleicher Ort, gleiche Zeit.
Es hatte leicht zu schneien begonnen, gerade so stark, dass die Lieferwagen auf der Via Irnerio Reifenspuren hinterließen. Marco verließ das angenehm warme Café und staunte wieder einmal, wie klug und vorausschauend es von den alten Baumeistern gewesen war, die Gehwege in der Stadt auf über dreißig Kilometern zu überdachen. Er ging ein paar Querstraßen Richtung Osten und wandte sich dann nach Süden, der Via dell’Indipendenza zu, einem breiten Boulevard, der in den Siebzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts gebaut worden war, um den vornehmen Leuten den Zugang zum Bahnhof im Norden der Stadt zu erleichtern. Als er die Via Marsala überquerte, trat er auf einen vermeintlichen Schneehaufen und erschrak, als er mit dem rechten Fuß tief in eisigem Schmelzwasser einsank.
Wieder einmal verfluchte er Luigi für seine unzureichende Kleidung – es musste doch jedem vernunftbegabten Menschen klar sein, dass man bei solchen Witterungsverhältnissen feste Stiefel brauchte! Der Gedanke mündete in ein allgemeines stummes Klagelied darüber, dass er von denen, die dieses Versteckspiel leiteten, so kurz gehalten wurde. Sie hatten ihn nach Bologna verfrachtet und gaben, um sein Leben zu schützen, zweifellos größere Summen aus – für Sprachunterricht, ein sicheres Haus, Personal und Verpflegung. Seiner Meinung nach war das alles
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