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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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grundsätzliche Dinge, Herr Kollege. Ihre Frau Mutter will sich operieren lassen. Sie sind doch einverstanden …«
    Jens Hansen starrte auf die Röntgenplatten. Mutter … sechs Monate … ein Tod durch Verhungern …
    »Operieren Sie«, sagte er leise.
    »Wollen Sie Ihre Mutter dann auch in eines Ihrer vier Betten legen?«
    »Ja!«
    »Sie sind ja verrückt!« Färber sprang auf. »Eines Tages werden Sie sogar in Ihrem Fanatismus hingehen und die Krebskranken vor einer Operation warnen!«
    »Wenn es ohne Eingriff geht – sicherlich!«
    »Hansen!« Färber stand dicht vor ihm. »Wenn ein einziger Patient bei Ihnen stirbt, bei dem wir beweisen können, daß wir ihn klinisch hätten behandeln können, ist es fahrlässige Tötung!«
    »Und die Patienten, die bei Ihnen postoperativ oder auf dem Tisch sterben …«
    »Sie hatten die Grenze menschlicher und wissenschaftlicher Möglichkeiten überschritten.«
    »Ach!«
    »Ja!«
    »Ich darf mich empfehlen?« Jens Hansen verbeugte sich leicht vor Herta Färber. »Ihr Tee, gnädige Frau, war das einzig erfreuliche.«
    In der Diele nahm er seine Aktentasche von der Garderobe. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
    »Kommen Sie bald wieder, Herr Hansen.«
    Ihre Augen waren dunkel. Sie hielten Hansen fest.
    »Gern«, sagte er, »gern gnädige Frau …«
    Langsam ließ sie die Hand von seinem Arm gleiten, und die Augen gaben ihn frei.
    Schnell ging Dr. Jens Hansen durch den Vorgarten zur Straße und stieg in seinen Wagen. Er sah sich nicht um, als er abfuhr. Auch durch den Rückspiegel schaute er nicht. Er trat auf das Gaspedal, daß der Wagen aufheulte und über die Straße schoß.
    Färber, der jetzt in der Diele erschien, schüttelte den Kopf.
    »Nicht mal richtig autofahren kann er …«, sagte er spöttisch.
    »Jens!«
    »Ja?«
    »Warum schläfst du nicht?«
    »Ach, nichts.«
    »Hast du Sorgen? War etwas mit Färber?«
    »Nein, nein. Leg dich hin, Liebes.«
    »Dreimal bist du aufgestanden und hast dich ans Fenster gestellt. Ich habe es gesehen, auch wenn du ganz leise warst. Du hast doch etwas …«
    »Ja …«
    »Dann sag es doch …«
    »Mutter wird sterben.«
    Schweigen. Lange … lange …
    »Krebs?«
    »Ja.«
    »Wir nehmen sie sofort zu uns.«
    »Ich fürchte, es wird nichts nützen. Ich fürchte mich fast vor meinen eigenen Theorien. Ich fürchte mich vor mir selbst.«
    »Du sollst schlafen, Jens.«
    Er küßte ihre Handflächen.
    Erna Wottke starb nach drei Monaten. Die Hirnmetastasen verwirrten sie immer mehr, die Rückenmarkmetastasen zerstörten sie. Die letzten drei Wochen lag sie fast nur murmelnd und stammelnd auf dem Rücken. Sie konnte die Beine nicht mehr bewegen, die wenigen Speisen, die sie zu sich nahm, schluckte sie nicht mehr hinunter.
    Von allem wußte sie nichts. Nur wenige Minuten erkannte sie Franz Wottke wieder. Dann lächelte sie und sagte ganz klar und ganz laut: »Zieh dem Peter die rote Strumpfhose an …«
    Franz Wottke hatte sich mit den Tatsachen abgefunden. Er sah, daß Dr. Hansen alles getan hatte, was man an Erkenntnissen der internen Therapie zusammengetragen hatte. Doch wenn er allein war, wenn er in seinem Siedlungshäuschen nachts herumging und sich umsah … der Mantel, der an der Garderobe hing, die Kaffeedecke, die sie gestickt hatte, die Gardinen, die sie auf der alten geerbten Nähmaschine genäht hatte, das Bett, in dem sie zwölf Jahre neben ihm gelegen hatte, und vor allem die sechs kleinen Wuschelköpfe in den Bettchen – wenn er das alles mit leeren, ausgebrannten Augen ansah, krampfte ein wildes Würgen seine Kehle zu, und das Nichtbegreifen rann wieder wie ein Eisstrom durch seinen Körper …
    Erna Wottke schlief ruhig ein. Die Auszehrung, der allgemeine Kräfteverfall, nahm sie still hinüber. Das Herz hörte plötzlich auf zu schlagen. Franz Wottke, der neben ihr saß und ihre Hand hielt, merkte es bloß durch ein leises Zucken und den tiefen, fast seligen Atemzug, der noch einmal ihre Brust hob. Dann wurde das Gesicht fahl, aber ihre Lippen lächelten, als träumten sie jetzt etwas unvorstellbar Schönes.
    »Erna …«, stammelte Franz Wottke. Er beugte sich über sie und küßte sie noch einmal.
    Dr. Jens Hansen stand hinter ihm. Er faßte Wottke sanft an der Schulter. Der Werkmeister nickte und richtete sich auf.
    »Sie … lächelt«, stotterte er. Seine Stimme ertrank.
    »Kommen Sie. Haben Sie überhaupt in den letzten drei Monaten geschlafen?«
    »Kaum, Herr Doktor.«
    »Wie … wie …« Dr. Hansen suchte nach

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