Die Begnadigung
Worten. »Soll meine Frau mitgehen, um es den Kindern zu sagen …?«
»Nein, danke.« Franz Wottke schüttelte müde den Kopf. Er sah zurück auf das gelöste Gesicht Ernas. »Sie wissen es … Jeden Abend beten sie darum, daß Mutter erlöst wird.« Wottke lehnte sich an die Tür. Er zitterte. »Für sie ist der Tod jetzt etwas Schönes, was Mutti glücklicher macht als das Leben …«
Er wollte weitersprechen. Aber er drückte das Gesicht an die Wand und weinte.
Dr. Hansen ließ ihn allein und ging hinüber zu seiner Mutter.
Wie kann man trösten, wenn man selber des Trostes bedarf …
Denn seit einem Monat war auch das zweite Bett in Hansens kleiner Privatklinik belegt. Berta Hansen, die Mutter Dr. Hansens, war nun doch zu ihrem Sohn gekommen und hatte das Zimmer neben Erna Wottke bezogen. Dr. Färber hatte sie entgegen seiner ersten Ansicht nicht operiert. Als er den Magen freigelegt hatte, sah er die Sinnlosigkeit ein. Er schrieb an Dr. Hansen:
»Ich bedauere unendlich, daß …«
Es war ein Satz, den er im Laufe seines Chirurgenlebens mehr als irgendeinen anderen Satz ausgesprochen hatte …
Zehn Monate sind lang, wenn man stündlich darauf wartet, erlöst zu werden.
Berta Hansen lag diese zehn Monate ruhig und gefaßt. Daß sie noch lebte, begriff sie nicht. Sie hatte alles getan, was ihr Sohn anordnete, auch wenn es manchmal schwer fiel. Sie hatte mit rauhen Bürsten ihre Haut gerieben, immer zum Herzen hin, bis sie brannte. Sie hatte sich kalt gewaschen, der strengen Diät unterworfen, mit Widerwillen Warmätherbehandlungen über sich ergehen lassen, die Mesenchym- und Fermentpräparate genommen; sie hatte sich die Mandeln herausnehmen lassen und alle Zähne, sie hatte alles mitgemacht, um ihrem Sohn den letzten Gefallen ihres Lebens zu tun: Sieh, ich habe Vertrauen zu dir.
In Wahrheit glaubte sie nicht daran.
Und trotzdem: Ihr Zustand besserte sich. Sie nahm an Gewicht wieder zu, sie fühlte sich wohler. Nach zwei Monaten konnte sie an Karins Arm durch den Garten spazieren gehen, erst nur wenige Minuten, aber dann von Tag zu Tag länger. Im Februar ließ sie sich in einem Pferdeschlitten über das Land und in die Wälder fahren und ging allein oft stundenlang durch den tiefen Schnee.
Ein paarmal traf Dr. Hansen in der Stadt mit Herta Färber zusammen. Nur kurz immer, im Vorübergehen.
»Wie geht's denn?« fragte sie jedesmal.
»Gut, gnädige Frau.«
»Und Ihre Mutter?«
»Macht Wanderungen. Schulmedizinisch gesehen müßte sie schon drei Monate tot sein.«
»Gratuliere!« Sie lachte, kühl wie immer, aber in ihrer Zurückhaltung unheimlich reizvoll. »Ich warte immer noch, daß Sie mich – ich wollte sagen uns wieder besuchen. Oder auch nur mich. Ich bin kein Chirurg und werde bestimmt mit Ihnen nicht über die Vorzüge der Chirurgie streiten. Ich habe mehr für Biologie übrig. Wie man hört, sollen Sie mit biologischen Heilverfahren Erfolge haben.« Sie warf den Kopf in den Nacken.
Dr. Hansen zog höflich den Hut. »Wenn Sie die Biologie wirklich interessiert, schicke ich Ihnen ein paar Lehrbücher hinüber. Guten Tag, gnädige Frau.«
Im Rückspiegel seines Wagens blickte er ihr nach. Sie ging auf hohen, schlanken Beinen an den Fensterreihen entlang. Jetzt blieb sie stehen, sah sich nach ihm um.
Da zog er den Anlasser und fuhr schnell um die nächste Ecke.
»Ich habe Hansen getroffen«, erzählte Herta später ihrem Mann. Oberarzt Hubert Färber sah kurz von seinen medizinischen Schriften auf.
»Er scheint sich totzulaufen mit seiner verrückten Therapie.«
»Seine Mutter lebt immer noch.«
»Aber wie!«
»Sie macht Wanderungen.«
»Abwarten. Das geht keinen Monat mehr …«
Sie trafen sich öfters, Jens Hansen und die Frau des Oberarztes. Immer wiederholten sich ihre kurzen Gespräche.
Dr. Färber schüttelte verblüfft den Kopf, als Herta ihm von der letzten Begegnung berichtete.
»Hansens Mutter geht es unverändert gut«, sagte sie. »Was hältst du davon?«
»Unbegreiflich. Ich werde morgen in der Klinik sofort die Krankengeschichte durchsehen.« Hubert Färbers Hände spielten nervös mit seiner Brille. Herta sah es mit einer gewissen Freude.
Sie hatte Hubert Färber als junges Mädchen geheiratet. Er war ihr erster Mann. Aber seine Klinik fraß ihn auf. Zwar gehörte das Wochenende ihnen, aber dann tagen sie meistens auf der Terrasse in der Sonne oder besuchten irgendeinen Kongreß, und Herta wurde herumgereicht von Handkuß zu Handkuß, stand an kalten Büfetts,
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