Die Begnadigung
saß in unpersönlichen Sälen und hörte unverständliche Vorträge, klatschte, weil die anderen klatschten, und wartete dann wieder in ihrem Bungalow auf die wenigen Stunden, in denen sie eine Ehe führten. Wenn man das noch so nennen konnte oder überhaupt so hatte nennen können …
»Seiner Mutter geht es gut!« sagte Herta noch einmal mit Nachdruck.
»Es ist möglich, daß ich mich in der Diagnose geirrt habe. Vielleicht war es nur ein entzündlicher, gutartiger Tumor.«
»Und der histologische Befund? Er kann sich nicht irren!«
»Irgendwo liegt hier ein Fehler! Eine Frau mit solch einem Magenkarzinom kann, nach dem vorliegenden Befund, nicht zehn Monate quicklebendig herumlaufen. Wir müssen uns geirrt haben!«
»Und etwas anderes ist nicht möglich?« Herta Färber vermied es, ihren Mann anzusehen.
»Was?« fragte er hart.
»Daß Hansens Theorie vielleicht doch Erfolg bringt?«
»Ausgeschlossen!« Färbers Stimme war gereizt. »Einen solchen Gedanken dürfen wir überhaupt nicht aufkommen lassen.«
Im elften Monat nach der Behandlung brach Berta Hansen plötzlich zusammen.
Sie hatte eine kleine Wanderung an den Rundsee unternommen, sich ins Gras gesetzt und die Enten gefüttert.
Sie war oft hierhergegangen. Die Stille war ihr Freund. Der See wie ein riesiger Spiegel, in dem sich Himmel, Wolken, die Wipfel der Bäume widerspiegelten. Viele Stunden hatte Berta Hansen hier gesessen, glücklich, achtundsechzig Jahre gelebt zu haben. Nicht immer mühelos, nicht immer im Sonnenlicht, nie ganz ohne Sorgen, aber doch ein schönes Leben, wenn man es jetzt genau überblickte.
Nun lag sie allein am Rand des Sees, auf der Seite, etwas verkrümmt, und eine dünne Blutspur führte vom Mund in das Gras.
Zwei Stunden später fanden sie Dr. Hansen und Karin. Sie waren, als der Regen begann, voll Sorge herumgefahren und hatten alle Plätze abgesucht, die Berta Hansen sonst auf ihren Spaziergängen besuchte. Erst zuletzt hatten sie an den Rundsee gedacht.
Dr. Hansen kniete neben der durchnäßten Gestalt. Er brauchte keine Erklärung mehr. Durchbruch des Karzinoms, Blutsturz, Herzschwäche … Er wagte nicht zu sagen, daß er es erwartet hatte. Die Röntgenkontrollaufnahmen hatten zwar einen Stillstand des Tumorwachstums ergeben. Zweifellos ein schöner Teilerfolg seiner Therapie. Aber das Karzinom hatte sich nicht zurückgebildet, es war nicht zerfallen. Der große Traum jeder Krebsbehandlung, den Tumor zu zertrümmern, blieb ein Traum …
Jens Hansen und Karin brachten den Körper zum Wagen. Die Augen Berta Hansens standen offen.
Es war, als danke sie noch im Tode dem Sohn, der ihr elf Monate geschenkt hatte. Fast ein ganzes Jahr, in dem sie von der Welt Abschied nehmen konnte und jene Ruhe gewann, die man selig nennt.
Es war ein Akt der Höflichkeit, daß Hansen auch an Oberarzt Dr. Färber eine Todesanzeige schickte.
Wütend knallte sie der Oberarzt auf den Tisch.
»So eine Frechheit!« sagte er laut und wies mit dem Zeigefinger auf das schwarzgeränderte Papier. Herta nahm die Anzeige und las sie durch.
»Lies es nur!« schrie Dr. Färber. »Solch eine Infamie! Das geht gegen mich! Nur gegen mich: Nach einem christlichen Lebenswandel starb unverhofft … Das ist unerhört!«
»Wieso? Hatte Frau Hansen keinen christlichen Lebenswandel?«
Dr. Färber rang nach Atem. Er wußte nicht, ob Hertas Antwort ehrlich war oder Ironie. Zu wütend, um sich auch noch mit seiner Frau zu zanken, nahm er das erstere an.
»… starb unverhofft! Das ist eine Ohrfeige für mich! Jawohl, eine Ohrfeige! Sie hatte Magenkrebs. Sie war ein aussichtsloser Fall …«
»Sie hätte eigentlich schon neun Monate tot sein müssen!«
»Ja. Das heißt …« Dr. Färber rannte zum Hausbarschrank und goß sich einen Kognak ein. Gierig trank er das Glas in einem Zuge leer. »Es bleibt ein Angriff, Herta! Dieser Doktor Hansen benutzt den Tod der eigenen Mutter, mich zu desavouieren!«
»Wie du das sagst: Desavouieren! Ich sehe in der Anzeige keinen Angriff. Er hätte sie ja nicht zu schicken brauchen!«
»Aber er hat. Bewußt steht das da: Starb unverhofft!« Er nahm die Anzeige, zerknüllte sie und warf sie in den offenen Kamin. »Wenn er glaubt, ich antworte darauf … wenn er glaubt, mich herauszulocken … wir ignorieren es, Herta!«
»Das tun wir, Hubert.«
Eine Stunde später schrieb Herta Färber die Kondulation. Im Namen ihres Mannes betrauerte sie tief den schmerzlichen Verlust. Sie schrieb noch mehr:
»Daß Ihre Mutter
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