Die Begnadigung
Wottke hatte das Sprechzimmer verlassen. Eine ganze Weile blieb Hansen noch vor dem Bücherregal stehen. Wie er alles hin und her betrachtete – er fand, daß er richtig gehandelt hatte.
Eine plötzliche Müdigkeit überfiel ihn. Draußen im Wartezimmer saß niemand mehr, der zu ihm wollte. Wottke war der einzige gewesen heute. Er konnte Schluß machen, er konnte sich ins Bett legen.
Als er sich umdrehte, sah er das Geld noch immer auf der Schreibtischplatte liegen. Wottke hatte vorhin die Bündel anscheinend nur in gleich hohe Stapel geordnet.
Hansen stürzte zur Tür, durch das Wartezimmer in den Flur und hinaus in den Vorgarten. Über den Zaun schrie er die Straße hinab.
»Herr Wottke! Herr Wottke! Wottke!«
Karin erschien in der Diele. »Was hast du denn?« fragte sie ahnungslos. »Warum schreist du denn nach Wottke?« Sie hatte eine locker gebundene Schürze um, aber trotzdem ließ ihr Zustand sich nicht mehr ganz verbergen. In ihrem Gesicht waren unregelmäßige, gelbliche Flecken. »Es wird ein Mädchen«, hatte sie vor dem Spiegel gesagt, als sie die Flecken zum erstenmal bemerkte.
»Wottke ist verrückt geworden!« schrie Hansen. »Ich muß ihm sofort nachfahren!«
»Verrückt? Wottke?«
»Ja. Er hat mir für die Klinik dreißigtausend Mark gebracht.«
»Für die Klinik?« fragte Karin leise. »Für was für eine Klinik, um Gottes willen? Für deine Klinik?« Und plötzlich schrie sie: »Jens! Jens …«
Hansen hörte Karins Ruf nicht mehr. Er war schon in der Garage und fuhr seinen Wagen heraus. Er sah auch nicht mehr, wie Karin langsam durch das Wartezimmer in das Sprechzimmer ging und vor dem Schreibtisch stehenblieb. Sie starrte auf die Geldbündel, und in diesem Augenblick wußte sie, daß sie den Kampf um Jens und ihrer beider Glück verloren hatte.
Ein wilder Zorn überkam sie. Sie fegte die Scheine mit einer so heftigen Bewegung vom Tisch, daß sie dabei das Gleichgewicht verlor. Karin versuchte sich zu fangen, aber sie fand keinen Halt, schlug hart zu Boden und blieb auf den verstreuten blauen Geldscheinen liegen.
Mit der Fertigstellung der Klinik wurde sofort begonnen. Der Ärzte- und Schwesternbau erhielt Fenster. Die Anstreicher legten letzte Hand an. Die Tanks für die Heizung wurden gefüllt, der Ölbrenner eingebaut. Die Installateure montierten Lampen und Leuchtröhren. Und währenddessen begann eine Kolonne von Putzfrauen schon, den gesamten Klinik-Komplex zu scheuern und auf Hochglanz zu bringen.
Jens Hansen konnte sich um diese letzten Arbeiten nicht mehr kümmern. Er durfte die Aufsicht aber getrost dem neuen Hausmeister Franz Wottke überlassen, der sofort nach Anschließen der Heizung in seine Wohnung gezogen war und vom Morgengrauen bis zur Dämmerung keinen Winkel des großen Baues unbeaufsichtigt ließ.
»Unsere Klinik«, sagte Wottke stolz, wenn er von ihr sprach, und hatte damit nicht einmal ganz unrecht. Abends lief er manchmal durch die Räume und dachte: dreißigtausend Mark. Der OP-Tisch da, der könnte mir gehören. Oder ein Teil der Röntgenanlage … Daß er aber fühlte, wie die alte Energie in ihm zurückkehrte, das war das, was ihn mit seinem Schicksal erst wirklich ganz wieder versöhnte.
Karin lag unterdessen in der Universitätsfrauenklinik. Der Chef der Klinik hatte noch nicht mit Dr. Hansen gesprochen. Er war dauernd besetzt oder verreist. Hansen wunderte es nicht.
Professor Commius war Bundesbruder und ein guter Freund von Professor Runkel. Er wich dem eigensinnigen Außenseiter aus und schickte seinen Oberarzt vor.
»Wir glauben nicht«, sagte er zu Hansen, »daß wir die Schwangerschaft werden erhalten können. Natürlich versuchen wir es. Gegebenenfalls aber müssen wir … Sie wissen schon …«
»Ich weiß.« Dr. Hansen sah den Oberarzt aus müden, gequälten Augen an. »Ich gebe Ihnen meine Einwilligung …«
»Sollte alles gut gehen, so haben wir die Schnittentbindung vorgesehen. Professor Commius ist der Ansicht …«
»Warum läßt sich Commius verleugnen, Herr Kollege?«
Der Oberarzt zögerte mit der Antwort. »Sie wissen doch, wie das so ist«, sagte er dann vorsichtig. »Die Alten, die Heroen der Medizin auf dem Ordinariusstuhl …«
»Er will mich nicht sprechen?«
Der Oberarzt legte Hansen die Hand begütigend auf den Arm. »Wenn's drauf ankommt, wird Commius Ihre Frau wie seine eigene Tochter behandeln. Sie haben ja nur eine Leidenschaft, die Alten: Sie kokettieren mit ihrem Stolz. Sie, Herr Kollege, haben mit Ihrer
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