Die Begnadigung
war elementar wie die Behauptungen, die Dr. Hansen aufgestellt hatte.
»Dieser Mann ist eine Gefahr!« rief der Pathologe Professor Bongratzius durchs Telefon. »Der Tumor ist keine lokale Erkrankung, sondern eine sichtbare Manifestation eines chronisch erkrankten Körpers! Das können wir uns nicht gefallen lassen, Herr Kollege. Was werden Sie unternehmen?«
»Nichts!« Runkel saß in seinem ledernen Lehnstuhl und hatte die Zeitschriften mit dem rot angestrichenen Hansenartikel vor sich liegen. »In vier Tagen läuft über die Fernsehsender meine Operation an der Aorta. Ich habe ihr einige nette Worte über Krebs beigegeben. Und außerdem … wer ist dieser Hansen? Schweigen wir ihn tot … das ist das beste. Aufregung und Streitgespräche sind die beste Reklame. Man sollte sie ihm nicht frei ins Haus liefern. Nichts sagen, lieber Bongratzius … aber auch diesen Hansen nicht schreien lassen.«
»Ein überlegenswerter Vorschlag, gewiß. Wir sollten einmal alle zusammenkommen.« Professor Bongratzius schien in seinem Terminkalender zu blättern. »Sagen wir … in drei Wochen. In Wiesbaden. Am 27.?«
»Wenn Sie die Benachrichtigung der anderen Kollegen übernehmen wollen.« Runkel notierte sich das Datum. »Ich bin sehr angespannt in der Klinik. Ein Pathologe hat da eher Zeit …«
Bongratzius lachte. »Gut. Ich werde die Kollegen verständigen. Es ist ja nicht auszudenken, was wird, wenn sich diese zweifelhaften Heilmethoden in der Öffentlichkeit herumsprechen …«
Runkel nickte mehrmals. Dann legte er den Hörer zurück und las noch einmal einen Satz Hansens durch, als wolle er ihn auswendig lernen:
»Viele Ärzte und verantwortliche Verwaltungsangehörige stehen bedauerlicherweise noch immer auf dem Standpunkt, daß Ausgaben für Behandlung Inoperabler sinn- und zwecklos seien, weil nichts das schicksalmäßig unabwendbare Ende aufhalten könne.« (Dr. Herberger)
Und weiter: »Wann sehen Chirurgen und Strahlentherapeuten ein, daß nicht eine Zusatzbehandlung Krebskranker oder Hilfsmethoden sinnvoll sind, sondern nur eine interne Grundbehandlung der Geschwulstkrankheiten? Hand in Hand mit der Chirurgie könnte sie die Geißel Krebs an der Wurzel packen. Nicht im Siechenhaus wird das Krebsproblem gelöst, sondern durch die Praktiken am Krankenbett! Ringen wir uns doch endlich durch, daß das Karzinomproblem kein reines Zellproblem mehr ist, sondern ein Ganzheitsproblem!«
Professor Runkel legte die Zeitschriften weg und schüttelte bedächtig den Kopf. Dann schob er seinen Terminkalender heran, rückte die Goldbrille auf die Stirn und schrieb hinter das Datum 27:
»Frei halten. Alles an Färber überweisen.«
Man konnte an Dr. Hansen nicht mehr vorbeigehen …
Über die Fernsehschirme flimmerte die große Aorta-Transplantation Professor Runkels. Man hatte den Film für die Öffentlichkeit etwas gekürzt. Nur in den Universitäten und auf ärztlichen Kongressen sollte er im Original gezeigt werden.
An diesem Tag war der Empfänger in der See-Klinik abgeschaltet. Nicht über Krankheiten reden … das war hier eines der obersten Gebote für Patienten. Im Chefzimmer hatten sich die wachfreien Ärzte und Schwestern um Hansens Privatapparat versammelt und starrten auf Runkel und seinen ihm assistierenden Oberarzt Dr. Färber.
Herta Färber saß ganz hinten, mit dem Rücken an der Wand. Ihr Mund war schmal, als sie ihren Mann auf dem Bildschirm sah … mal in Großaufnahme, mal seine sicher operierenden Hände, und ab und zu seine tiefe Stimme, wenn er von der Instrumentenschwester etwas verlangte. Einmal war es, als sehe er sie groß an … da biß sie die Zähne aufeinander …
Was ist aus mir geworden, dachte sie. Dem einen bin ich weggelaufen … der andere weist mich zurück. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin und zu wem ich gehöre …
Die Operation verlief mit unglaublicher Präzision, soviel glaubte sie davon zu verstehen. Das Herz, ein faustgroßer Kloß, klopfte jetzt in der offenen Brust. So also sah ein menschliches Herz aus, an dem Liebe und Qual zerrten. Ein Klumpen. Aus dem Apparat kam das Klopfen dieses Herzens. Oder war es ihr Puls, der so hämmerte … Ihr Blick suchte Hansen. Er saß neben Dr. Wüllner, etwas zurückgelehnt, und verfolgte die Operation mit sachlicher Aufmerksamkeit. Der Widerschein des Bildschirms lag phosphoriszierend auf seinem weiß werdenden Haar.
»Toll!« sagte Wüllner, als Runkel die Transplantation beendet hatte und der Blutkreislauf durch die Teflon-Aorta
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