Die Begnadigung
Hertas Augen trat ein flimmernder Glanz. Das Unheimliche, das Hansen seit einem Jahr mit Schrecken an ihr bemerkte, brach wieder aus ihr heraus. Das Leid, die Hilflosigkeit der anderen, eine Schwäche erzeugten in ihr eine lustvolle Überlegenheit.
Hansen wurde einer Antwort enthoben. Marianne und Dr. Wüllner kamen in das Zimmer.
»Hier bin ich wieder, Chef!« rief Marianne fröhlich und streckte ihm die Hand entgegen. »Fünf Jahre jünger …«
»Sie sehen blendend aus. Tatsächlich! So erholt!« Es ging ihm von der Zunge, als sei es die Wahrheit. Er sah zu Wüllner. Sein Gesicht strahlte glücklich. In vier Monaten wollen sie heiraten, dachte Hansen. Das ganze Glück ihres jungen Lebens liegt in ihren Augen. Und niemand weiß, daß unter diesen langen, seidigen Locken der Tod sitzt … ein pfenniggroßes, in der Hirnhaut sitzendes Melanom. Unangreifbar.
»Und wissen Sie, warum sie eine Woche lang nicht geschrieben hat?« rief Dr. Wüllner. Er hielt Marianne um die Hüfte gefaßt und an sich gedrückt. »Sie hatte einfach nichts, was sie mir schreiben konnte. Halten Sie das für möglich? Als ob sich Verliebte nicht immer was zu sagen haben …«
Hansen nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Er sah hinüber zu Herta. Sie starrte Marianne Pechl mit glänzenden Augen an. Ihre feuchten Lippen zitterten.
»Kommt, Kinder«, sagte Hansen und legte den Arm um Mariannes Schulter. »Sie haben sicherlich Hunger, Marianne. Man hat Ihretwegen den Speisesaal geschmückt wie zu einer Bauernhochzeit. Sie werden Augen machen …«
Am Abend saß Hansen allein vor einer Röntgenplatte. Nur die Tischlampe brannte. Es hatte eine List gekostet, Marianne Pechl zu röntgen. Heute seien gerade die in der Klinik üblichen Kontrolluntersuchungen gemacht worden, und da wäre es doch das beste, wenn sie auch gleich … Nun hatte Hansen das Bild vor sich. Mit dem runden Fleck.
Als es klopfte, deckte Hansen ein Blatt Papier über die Aufnahme. Dr. Wüllner kam ins Zimmer.
»Sie haben mich rufen lassen, Chef?«
»Ja. Ich … ich wollte eine Flasche Wein mit Ihnen trinken. Und ich möchte einmal ganz privat zu Ihnen sprechen. Kommen Sie, nehmen Sie Platz.« Hansen zeigte auf einen Sessel. Zwei Weingläser standen auf dem Rauchtisch, eine Flasche Rheinwein, Zigaretten … die ersten Zigaretten, die Wüllner seit fast zwei Jahren bei Hansen sah.
»Das muß ja ein besonderes Fest sein«, sagte er fröhlich und setzte sich. »Jetzt, wo ich bei Ihnen auch Zigaretten sehe, kann ich es Ihnen ja gestehen: Ich habe heimlich geraucht …«
»Ich weiß.« Hansen lächelte schwach. »Wottke hat's mir erzählt. Ihre Gardinen müssen öfter gewaschen werden als die anderen.«
Er nahm die Röntgenplatte, legte sie auf die Couch und setzte sich Wüllner gegenüber. Dann goß er die Gläser voll Wein und hob sein Glas dem jungen Arzt entgegen.
»Auf … auf unsere Kraft!« sagte er.
Wüllner stieß verwundert an. »Ein ungewöhnlicher Toast.« Er nahm einen Schluck und sah dabei Hansen über den Glasrand an. Was soll's, dachte er dabei. Was will er?
Erst als die Flasche leer war, steuerte Hansen auf sein Ziel los.
»Sie lieben Marianne, nicht wahr, Wüllner?«
Wüllner antwortete verwundert: »Sie wissen es doch, Chef …«
»Meinen Sie, daß Ihre Liebe zu ihr auch – Belastungen erträgt?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber es ist ganz selbstverständlich …« Er scheint keinen Wein zu vertragen, dachte Wüllner.
»Sie wollen Marianne unter allen Umständen heiraten?«
»Was heißt: Unter allen Umständen?« Wüllner faltete die Hände. Plötzlich fühlte er sich unwohl unter dem Blick Hansens. »Es gibt doch keine Umstände, die …«
»Können Sie Marianne sofort heiraten? Sie haben doch alle Papiere hier.«
»Es fehlt noch ein Papier aus der Ostzone.«
»Telegrafieren Sie danach. Ich möchte, daß Sie sofort heiraten …«
Wüllner beugte sich weit vor. »Was … was ist … Herr Hansen … sagen Sie die Wahrheit … hier ist doch etwas los …«
»Wir haben vorhin auf unsere Kraft angestoßen, Wüllner. Wir werden sie jetzt brauchen. Nehmen Sie Ihr Herz ganz, ganz fest in beide Hände. Ich muß Ihnen etwas zeigen …«
Hansen griff zur Seite und reichte Wüllner die kleine Röntgenplatte hinüber. Der junge Arzt zögerte einen Augenblick, dann griff er zu und hob das Bild gegen das Licht der Stehlampe.
Ein Schädel … die Hirnhaut … ein runder Punkt …
Vor seinen Augen flimmerte es. »Ein Tumor …«,
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