Die Begnadigung
sagte er heiser.
»Nein.« Hansen schüttelte den Kopf. »Ein … ein Melanoblastom …«
»Marianne …« Es war fast ein Schrei.
»Ja. Darum schwieg sie sechs Tage. Sie lag ohnmächtig in Oberstdorf …«
Das Röntgenbild fiel Wüllner aus der Hand. Er sprang auf, lief ans Fenster, riß es auf, klammerte sich an den Rahmen und legte den Kopf dagegen … So stand er eine lange Zeit, stumm, nur heftig atmend …
»Keine … Hoffnung mehr …?« fragte er endlich. Es war eine fremde Stimme.
»Ehrlichkeit war immer unser oberstes Gebot. Hätte ich jetzt Sie belügen sollen, Wüllner?«
»Nein. Ich … ich danke Ihnen!« Wüllner drehte sich zu Hansen um. »Aber wollen Sie es Marianne sagen?«
»Das eben wollte ich mit Ihnen besprechen.«
»Bitte, sagen Sie es ihr nicht. Ich weiß, wie sehr sie am Leben hängt. Ich will alles tun, um sie glücklich zu machen, solange sie da ist. Wir werden sofort heiraten, ich werde ihr die Welt zeigen, ich … ich … ich …«
Er wandte sich schroff ab, trat wieder ans Fenster und begann wie ein Kind zu weinen.
Die Theatergruppe der ›See-Klinik‹ probte weiter.
Regisseur Hans Bertrich ging systematisch vor. Er übte nicht nur den Text ein, er verband die Leseproben auch gleich mit einer Sprechschulung. Eine Stunde lang übten Wottke und Fabrikant Vindrich den berühmten Schauspielschüler-Satz: ›Fischers Fritze fängt frische Fische‹, bis Wottke sich hinsetzte und streikte.
»Ich spiel' doch den Löwen … ich hab' nur zu brüllen!« sagte er. »Und Löwen mögen auch keine Fische …«
Dabei blieb er, und Vindrich schrie allein seine Zungenbrechersätze in den leeren Aufenthaltsraum.
Die erste Kostümprobe drohte in einem handfesten Skandal zu enden. Lisbeth Wottke nähte Vindrich am angezogenen Kostüm eine Falte neu, und als Vindrich dabei leicht ihre Haare streichelte, explodierte Franz Wottke mit elementarer Gewalt …
»Ick garantiere für nischt mehr!« schrie er den Regisseur Hans Bertrich an, als er mit ihm allein in der Garderobe war. Er hielt ihm das Textbuch hin. Seine Hand zitterte vor Erregung. »Und im ersten Akt soll ick als Löwe auch noch 'n Walzer mit dem Kerl tanzen! Überhaupt der Blödsinn! 'n Löwe, der Walzer tanzt, nur weil ihm 'n Dorn aus der Zehe gezogen wird!« Wottke warf das Textbuch auf den Boden. Er glühte vor Eifersucht. »Ick ändere das Stück um! Ick tanze nich … ick fresse den Vindrich im ersten Akt!«
»Zuerst lernen Sie mal richtig brüllen! Was Sie jetzt von sich geben, ist ein Geheul von einem lahmen Hund.« Bertrich hob das Textbuch auf und drückte es Wottke wieder zwischen die Finger. »Setzen Sie sich hin, studieren Sie Ihre Rolle, üben Sie brüllen … so richtig voll, wie ein kraftstrotzender, wilder Löwe … Mit Herrn Vindrich werde ich sprechen …«
»Warnen Sie ihn!« schrie Wottke ihm nach, als Bertrich die Garderobe verließ, für die Wottke einen Abstellraum freigemacht hatte. Dann saß er auf einem Stuhl am offenen Fenster, das Rollenbuch zu ›Androklus und der Löwe‹ in der Hand. Erster Akt, Schlußszene … Anmerkung des Dichters: Der Dorn kommt heraus. Der Löwe brüllt auf vor Schmerz und schüttelt wütend seine Pfote …
Wird mir nicht schwerfallen, dachte Wottke. Wütend … brüllen vor Schmerz … wenn er sich Lisbeth vorstellte … was die für Augen macht, wenn der Vindrich, dieser Lackaffe, sie ansieht …
Und so saß er am offenen Fenster und brüllte. Laut, dröhnend, langgezogen … Im Park zuckten die promenierenden Kranken zusammen, als er richtig loslegte. Dr. Wüllner, der aus dem Labor kam, blieb für einen Moment wie erstarrt stehen. Seine Augen suchten die Fensterfront der Klinik ab. Dann beeilte er sich, ins Haus zu kommen. In der Halle traf er Dr. Summring.
»Was ist das für ein widerliches Gebrüll?« rief Wüllner.
»Wottke übt seinen Löwen!«
»Fürchterlich! Wir haben hier doch eine Klinik und keinen Rummelplatz! Was sagt denn der Chef?«
»Nichts.« Dr. Summring hob die Schultern. »Sie kennen doch seine Ansicht: Alles, was den Kranken gefällt, ist erlaubt. Sie sollen sich freuen, ganz individuell.«
Wüllner schüttelte den Kopf, rannte durch den langen Gang und riß die Tür zur Garderobe auf. Wottke saß noch immer am Fenster, das Rollenbuch in der Hand, riß den Mund weit auf und brüllte steinerweichend.
»Sind Sie nicht bei Trost, Wottke?« überschrie Wüllner das Gebrüll. Wottke sah sich um. In seinen Augen stand tiefe Traurigkeit.
»Kann schon
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