Die Begnadigung
Schweigen verurteilt.
Ein Melanoblastom.
Der Chefarzt zögerte, den Strom auszuschalten, so ungeheuerlich kam ihm die Entdeckung vor. Beim Aufstehen warf er den Stuhl um.
»Wir wissen jetzt genau, was Ihnen fehlt!« sagte er und atmete tief dabei, um seiner Stimme Halt zu geben. »Sie haben ein sehr labiles vegetatives Nervensystem …«
»O Gott. Das Nervensystem! Wie gut für uns Ärzte, daß es das gibt. Darauf kann man alles schieben.« Sie sprang vom Röntgentisch auf und ordnete lachend ihre etwas zerzausten Haare. Plötzlich aber wurde sie ernst und drehte sich zu den Kollegen um. Sie sah in bleiche, mitleidvolle Gesichter, die sich sofort mit einem Lächeln überzogen, als sie sie anblickte. Ein einstudiertes Lächeln, mit dem man einem Todkranken sagt, daß er bald wieder herumwandern könne.
»Warum werde ich ab und zu ohnmächtig?« fragte sie laut. »Sie verbergen mir etwas. Ich sehe es Ihnen an! Sie können mich doch nicht belügen … Habe ich einen Hirntumor?«
»Nein!« sagte der Chefarzt ehrlich. »Es sind wirklich nur die Nerven. Sie sollten von Hansen weggehen und hier bei uns bleiben. Die frische Luft …«
»Die habe ich in Plön auch!«
»Die Ruhe, die bei uns ist. Fünfundsiebzig Schwerstkranke … tagaus, tagein, jahrelang … das hält eine Frau nicht aus. Das hält selbst Hansen nicht aus. Sie werden es erleben.«
»Bitte, kein Wort mehr darüber.« Marianne blinzelte in die Sonne, als die Schwester die Vorhänge zurückzog und die Verdunklungsrollos hochschnellen ließ. »Wer einmal mit Hansen gearbeitet hat, verläßt ihn nicht …«
Am Abend, als sie ihren Brief an Wüllner schreiben wollte, brach sie wieder zusammen. Ohne Ankündigung, ohne Schmerzen, ohne Vorzeichen kam es über sie, wie eine dunkle Wolke, riesig und undurchdringbar, die den Tag in tiefste Nacht verwandelte.
Sie fiel aufs Bett, mit den Fingern den Füllfederhalter umklammernd.
Sechs Tage blieb sie in einem Dämmerzustand, aß mechanisch, trank in kleinen Schlucken und fiel dann wieder zurück in einen Zustand zwischen Wachen und Ohnmacht.
Am sechsten Tag rief Dr. Hansen an. Schonungslos sagte ihm der Chefarzt die Wahrheit. Ja, er sagte noch mehr:
»Und das in einer Krebs-Klinik! Es ist mir unverständlich, Herr Hansen, daß Sie das nicht erkannt haben und mir Fräulein Pechl zur Erholung und Kräftigung herüberschicken. Von einem Fachmann wie Sie sollte man annehmen, daß …«
Dr. Hansen legte auf. Ohne Antwort. Der Chefarzt warf den Hörer zurück auf die Gabel.
»Eingebildeter Fatzke!« sagte er laut. »Kommt sich vor wie der Herrgott und ist doch nicht mehr als ein Quacksalber …«
Nach acht Wochen kam Marianne Pechl zurück in die ›See-Klinik‹. Sie sah braungebrannt aus, hatte etwas zugenommen und fiel Dr. Wüllner, kaum daß sie aus dem Wagen gestiegen war, um den Hals. Auf den Balkons klatschten die liegenden Patienten Beifall. Hans Bertrich und Fabrikant Vindrich schwenkten riesige Blumensträuße. »Die acht Wochen ohne Sie, Fräulein Doktor, waren verlorene Wochen«, rief Peter Vindrich.
»Rindvieh!« knurrte Wottke, der an der Tür stand. »Der Kerl mit seinen Komplimenten fällt mir auf die Nerven!«
Hansen stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah durch die Gardine auf die Auffahrt. Er hatte Wüllner noch nichts gesagt. Er wollte sich erst von der Richtigkeit der Oberstdorfer Diagnose überzeugen. Vielleicht war es doch nur ein Hirntumor, den man herausschälen konnte. An ein Melanom zu denken, war so fürchterlich, daß er sich dagegen wehrte, solange er nicht selbst die Wahrheit gesehen hatte und sich ihr beugen mußte.
Herta Färber saß am Schreibtisch und öffnete die Post. Neue Anfragen, ein Berg von Röntgenplatten, Krankengeschichten, Bitten. Eine Welt von Leid, die jeden Morgen in einer Posttasche hereingetragen wurde.
»Wann sagst du es ihr?« fragte Herta. Hansen zuckte zusammen und fuhr herum. Hertas kalte Augen zeigten keine Regung.
»Woher weißt du …«
»Heute ist mit der Post der Bericht gekommen. Hier …« Sie schob das Schreiben aus Oberstdorf über den Tisch. Hansen riß es an sich, überflog es, zerknüllte es und steckte es in die Rocktasche.
»Es bleibt ein Geheimnis, bis ich mit Sicherheit weiß, daß es wahr ist! Kein Wort, Herta! Keine Andeutung!«
»Was ist ein Melanoblastom, Jens?«
»Die furchtbarste, bösartigste Geschwulst, die es geben kann.«
»Kannst du sie heilen? Hier?«
»Ich weiß nicht …«
»Du … du weißt nicht?« In
Weitere Kostenlose Bücher