Die Begnadigung
Schneiden liegt, was nach dem Schneiden kommt … das geht Sie einen Dreck an! Ihr Arbeitsfeld ist der OP! Was, in drei Teufels Namen, kümmert es Sie, was Professor Lücknath tut? Es ist wichtiger, wenn man uns keine Fehler nachweisen kann! Daran sollten wir denken …«
»Das allein genügt nicht mehr, Herr Professor!«
»Wegen Ihrer Sammlung von kritischen Artikeln, die Sie gelesen haben? Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wohin kämen wir, wenn wir uns von jeder Kritik aus der Fassung bringen ließen? Wir wissen, daß ein Tumor, den wir wegschneiden, auch weg ist! Das ist klare Mathematik der Medizin … Aber zu sagen: Mit Sauermilch oder mit Vollkornbrot oder mit Sauerstoffblutwäschen zerstören wir den Tumor … das ist Philosophie der Medizin! Ich habe Sie immer für einen klaren Kopf gehalten, Färber!«
Runkel schob einige Röntgenplatten, die auf dem Tisch lagen, unruhig und nervös hin und her. »Sie werden sich bei Professor Lücknath entschuldigen …«
»Nein, Herr Professor.« Färbers Gesicht war starr. Runkel sah die bittere Entschlossenheit. Er senkte den Kopf.
»Ich bitte Sie darum, Färber …«
»Meine feste Überzeugung soll ich widerrufen?«
»Da muß ich denn doch fragen, ob Sie in der letzten Zeit überhaupt noch eine Überzeugung haben, Herr Färber. Ich jedenfalls habe manchmal nicht mehr den Eindruck …«
Dr. Färber wandte sich um. Über sein Gesicht zuckte es. Im Nacken fühlte er den Blick Runkels. Ich bitte Sie, hatte er gesagt. Nicht mehr befehlend, nicht herrschend, wie es seine Art war, sondern fast flehend. Es war ein Augenblick, den auch Färber jetzt tief tragisch empfand. Ein alter Mann mußte erfahren, wie sein Lieblingsschüler ihn verriet …
»Ich … ich werde mich entschuldigen …«, sagte Färber tonlos. Hinter sich hörte er die Röntgenplatten rascheln. Die Stimme Runkels war wie erlöst, als er sagte:
»Ich danke Ihnen Färber. Und morgen werden wir beide einen Magen operieren, daß unsere jungen Ärzte kopfstehen. Ich habe mir da eine neue Methode ausgedacht …«
Grußlos, mit gesenktem Kopf, verließ Färber das Chefzimmer.
Er flüchtete in die Röntgenstation, setzte sich in den Hintergrund auf einen Schemel und starrte durch die Dunkelheit auf die flimmernde Röntgenscheibe.
Ein Herz klopfte rhythmisch, die Lungen dehnten sich, fielen zusammen, dehnten sich … kleine dunkle Punkte durchbrachen die Fläche. Tausende von kleinen Punkten. Eine Staublunge.
Dr. Färber lehnte den Kopf zurück an die Wand und schloß die Augen. Die Schwester, die an ihm vorbeiging, sah ihn verblüfft an. Runkels Erster Oberarzt im Röntgenraum? Das war etwas ganz Neues.
Weit weg, wie in Watte gepackt, hörte Färber die Stimme des Röntgenarztes. Er diktierte den Befund.
Ich muß mit Hansen sprechen, dachte Färber. So sehr ich ihn hasse … ich muß mit ihm sprechen.
Auf einem Spaziergang durch die Bergwälder war Marianne Pechl plötzlich zusammengebrochen. Der Chefarzt, der sie begleitete und überhaupt in letzter Zeit sehr viel Zeit für sie hatte, stand vor dem Phänomen, daß Marianne mitten im Gespräch um sich griff, daß sich ihre Augen weiteten, als sähen sie etwas Grauenvolles … dann schwankte sie und fiel ohnmächtig seitlich in das Gras.
Das war alles so schnell gegangen, daß der Chefarzt sie nicht mehr hatte stützen können. Er kniete neben ihr nieder und drehte sie auf den Rücken. Der Puls war flatternd, der Herzschlag kaum hörbar, völlig unrhythmisch … es war, als würge etwas von innen das Leben ab …
Mit der Hilfe von drei Holzfällern wurde Marianne Pechl in das Sanatorium zurückgetragen. Sie war noch ohnmächtig, als der Chefarzt nach Herzinjektionen rief und zwei Ärzte ein Sauerstoffzelt über ihrem Bett aufbauten.
Mit aller Gründlichkeit wurde Marianne Pechl untersucht. Drei Stunden lang wurde ihr Körper abgehört, palpiert, durchleuchtet. Nichts wurde ausgelassen, keine Differentialdiagnose. Am Ende standen die Ärzte vor dem vollkommenen Rätsel. Sie fanden nichts. Erst die Melaninprobe des Urins erhellte schrecklich die Wahrheit.
»Das ist unmöglich!« sagte der Chefarzt leise. Er war plötzlich heiser. »Das kann doch nicht sein! Das muß ein Irrtum sein …«
Es war kein Irrtum. Am nächsten Tag durchleuchtete man Marianne Pechl noch einmal, und da war der unheimliche Feind: Ein kleiner, runder Fleck auf dem Röntgenbild. Die Ärzte starrten ihn an. Sie saßen dem Tod gegenüber. Auge in Auge … machtlos und zum
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