Die Begnadigung
zu probieren … es war eine willkommene Abwechslung … es machte Freude, dem brüllenden Wottke zuzusehen, dessen verbissener Kampf gegen den Fabrikanten Vindrich schon zu Wetten geführt hatte: Wird Wottke bei der nächsten Probe Vindrich anfallen oder nicht … diesen Vindrich, der es gewagt hatte, Wottkes Lisbeth übers Haar zu streicheln …
Die einzigen, die ein Programm fertig bekamen, waren die Musiker. Das erste Konzert des Klinik-Orchesters gestaltete sich auch zu einem richtigen Fest. Die Patientinnen und Patienten erschienen wie zu einer Gala-Premiere. Für die dienstfreien Schwestern und Ärzte hatte man die vordersten Stuhlreihen reserviert. Dr. Wüllner hielt eine Rede. Und dann spielten die krebskranken Musiker … zu Beginn einen Choral, dann Beethoven … Haydn … Schubert …
Mit geschlossenen Augen dirigierte der Musikstudienrat. Beim ersten Satz der ›Unvollendeten‹ rannen ihm die Tränen unter den geschlossenen Lidern hervor und liefen über die Wangen …
Dr. Wüllner preßte die Hände zusammen. Sein heimlicher Blick suchte Marianne. Mit weit offenen Augen starrte sie auf die Musiker. Es war, als hätte ein Orchester nie so innig und ergreifend gespielt wie diese Gemeinschaft der Aufgegebenen …
Dr. Hansen stand ganz hinten im Saal, an der Tür. In der Tasche knisterte der Brief Herta Färbers. Er hatte ihn drei Tage ungeöffnet mit sich herumgetragen. Es waren sieben neue Patienten gekommen. Sie brauchten ihn. Drei Nächte hatte er am Schreibtisch gesessen, die Untersuchungsergebnisse studiert und die Therapiepläne festgesetzt. Siebenmal verschieden … jeder Krebs ist anders, wie es auch nicht zwei völlig gleichartige Menschen gibt.
Dann erst hatte er Hertas Zeilen gelesen. Es waren nur ein paar Worte, und er hatte daran herumgerätselt:
»Hab Dank, Dank, Dank … Frage nicht warum … Wissen wir immer, warum das Leben so ist, wie es gerade ist? Ich wünsche Dir den reichsten Segen. Kein Groll sei zwischen uns … nur die Erinnerung … Und sie ist mir wie ein ewiges, unverlierbares Geschenk … Herta.«
Kein Wort, wohin sie gefahren war. Kein Wort, ob sie wiederkam. Kein Wort der Erklärung. Sie war gegangen, wie sie vor einem Jahr gekommen war. Und merkwürdig … es blieb keine Leere zurück.
Leise verließ Dr. Hansen den Saal und ging hinüber in sein Zimmer.
Er rief Hamburg an. Seinen Schwager Kieling. Den Rechtsanwalt, der die Scheidung von Karin so schnell und elegant geregelt hatte.
Karins Schwester kam an den Apparat. »Du, Jens?« sagte sie erstaunt. »Daß du lebst, liest man nur ab und zu in den Zeitungen. Und zwar in immer weniger schönen Zusammenhängen. An Feinden scheint es dir ja nicht zu mangeln!«
Dr. Hansen lachte bitter. »Nein, an Feinden wahrhaftig nicht!«
»Ist etwas Besonderes, Jens?«
»Warum?«
»Weil es ein ganzes Jahr her ist, daß du das letztemal angerufen hast. Seitdem kann viel vorgefallen sein …«
»Ich möchte deinen Mann sprechen.«
»Einen Augenblick. Ich schalte zum Büro um. Er arbeitet noch. Drei Strafsachen. Dicke Fälle. Ich seh' ihn kaum noch. Daß wir an Männer geraten sind, die nie Zeit für uns haben!«
Es knackte ein paarmal in der Leitung, dann meldete sich die etwas fette und asthmatische Stimme des Anwalts Kieling.
»Alter Schwede!« rief er. »Brauchst du mich? Will man dir den Hals umdrehen? Was man so über dich gehört hat, bist du wissenschaftlich ja schon ermordet.«
»Trotzdem brauche ich dich.« Hansen setzte sich vorsichtig seitlich auf die Stuhllehne. »Was macht Karin …«
»Was soll sie machen? Sie ist glücklich in ihrer kleinen, ruhigen Welt. Sie hat eine kleine Pension für Urlauber eingerichtet und lebt davon.«
»Hat sie mal nach mir gefragt?«
»Nein! Warum sollte sie?«
»Schließlich waren wir über ein Jahrzehnt verheiratet.«
»Zehn Jahre sind nichts gegen die Enttäuschung, die sie mit dir erlebt hat. Und dann noch diese Herta …«
»Frau Färber ist weg.«
»Weg? Was heißt weg? Hast du sie unterwegs verloren? Soll ich 'ne Suchanzeige loslassen …?«
»Laß uns einmal vernünftig miteinander reden.« Hansen holte tief Atem. »Frau Färber ist gegangen. Für immer. Seit Monaten lebte sie bei mir als Sekretärin …«
»Natürlich, jedes Kind muß einen Namen haben …«
»Glaube mir. Die Entfremdung war vollkommen! Nun ist alles eigentlich wie früher …«
»Was soll das heißen?«
»Ich möchte dich bitten, ein Zusammentreffen zu arrangieren. Zwischen Karin und
Weitere Kostenlose Bücher