Die Begnadigung
Marianne Pechl sah wieder auf den runden Fleck der Röntgenplatte. Sie verstand die Kreise, die Hansens Fettstift darum herum gemalt hatte. Sie dienten zur Orientierung, falls man eine Operation versuchen wollte. Aber Marianne erkannte auch sofort, daß solch ein Versuch sinnlos war. Wußte man, ob nicht schon Metastasen im Gehirn selbst waren, in der Leber, oder ob sich über die Lymphbahnen nicht schon Metastasen im Knochensystem gebildet hatten … und hier war die Grenze der chirurgischen Kunst.
Marianne Pechl sah zu Dr. Hansen. Ihre Stimme zitterte leicht.
»Ein junges Mädchen … Es wird schwer sein, es ihr zu sagen. Und auch Sie können ihr nicht helfen …«
»Nein …«
»Soll … soll ich mit ihr reden?«
Hansen fuhr herum. In seinem Blick lag eine unendliche Qual. Er setzte mehrmals zum Sprechen an, ehe ein Ton über seine Lippen kam.
»Sie …?«
»Vielleicht geht es in diesem Falle besser, wenn ich es versuche …«
»Ja …« Und nach ein paar Sekunden sagte Hansen noch einmal: »Ja …« Es klang wie ein Stöhnen.
»Wann soll ich mit ihr sprechen?«
Hansen antwortete nicht. Er setzte sich und stützte den Kopf in beide Hände.
Seltsam berührt betrachtete Marianne den Chef. Sie wußte längst, daß ihn das Schicksal jedes einzelnen Patienten traf, als wäre es sein eigenes. Aber soviel Zögern, soviel Ratlosigkeit wie heute hatte sie noch nie an ihm beobachtet.
Sie wollte sich schon entfernen, damit es ihm hinterher nicht peinlich zu sein brauchte, daß sie ihn so gesehen hatte, da erhob sich Hansen. Er schob eine kleine Mappe auf die Mitte des Schreibtisches und knipste die Lampe an. Dann kam er zu Marianne Pechl, streichelte ihr leicht über das verwunderte Gesicht und nahm alle Kraft zusammen, seiner Stimme Festigkeit zu geben.
»Dort, auf dem Tisch, liegt die Krankengeschichte des Mädchens. Lesen Sie sie durch, Marianne. Ganz ruhig … ich … lasse Sie jetzt allein. Es ist besser so …«
Er atmete tief auf und wischte sich über die Augen. »Wenn Sie mich nachher sprechen wollen … ich bin im OP. Ich bin immer für Sie zu sprechen …« Dann drehte er sich abrupt um und verließ schnell das Zimmer.
Marianne Pechl wartete, bis die Tür ins Schloß klickte. Dann ging sie um den Schreibtisch herum, zog den Sessel heran, setzte sich und schlug die Mappe auf.
Im OP wartete Dr. Wüllner. Er stürzte dem eintretenden Dr. Hansen entgegen.
»Haben Sie es ihr gesagt?« Er flüsterte fast.
»Ja … jetzt weiß sie es. In diesem Augenblick weiß sie es …«
»Und wie hat sie es aufgenommen? Ich muß sofort zu ihr!«
Hansen hielt Dr. Wüllner am Kittel fest. »Bleiben Sie! Sie wird zu uns kommen. Wir müssen warten, bis sie von selbst kommt … Sie muß allein sein … auch Sie können jetzt nicht mehr helfen …«
»Wenn sie sich etwas antut …« In Wüllners Stimme war nichts als nackte Angst.
»Wie wenig kennen Sie Ihre Braut, Wüllner …«
Dann saßen sie im OP, am großen Milchglasfenster, allein im großen kahlen Raum, in dessen Mitte nur der zusammengeklappte Operationstisch stand. Sie saßen fast eine halbe Stunde dort, innerlich zerwühlt, wartend, stumm …
Als die Tür aufschwang, riß es die beiden Männer von den Stühlen. Dr. Marianne Pechl kam herein, ein wenig bleich, aber sonst unverändert, im weißen Kittel, mit langen, offenen Haaren. Sie lächelte Wüllner zu und sagte zu Hansen:
»Die Patientin von Zimmer achtundsechzig hatte einen Kollaps. Ich habe eben Coramin injiziert. Und Doktor Summring läßt Sie bitten, Chef, auf Nummer neunzehn zu kommen. Dem Bronchial-Ca geht es sehr schlecht …«
»Ich komme!« Dr. Hansen stieß Wüllner in die Seite, als er sah, wie er etwas sagen wollte. »Sonst keine Vorkommnisse, Doktor Pechl? Alles klar …?«
Marianne nickte. Ihr Lächeln war verkrampft … aber sie konnte lächeln.
»Alles klar, Chef …«
»Na … dann gehen wir zu unseren Kranken …«
Er ging voraus, und Marianne und Wüllner folgten ihm wortlos. Sie gingen Hand in Hand, wie zwei Kinder, die sich nie verlieren wollen in der großen, rauhen, lauten Welt …
Zwischen Plön und Malente-Gremsmühlen stand der Wagen Dr. Färbers am Straßenrand. Er saß neben dem Auto auf einem Kilometerstein, rauchte nervös und hastig eine Zigarette und blickte in Abständen von fünf Minuten immer wieder auf seine goldene Armbanduhr.
Sie hatte versprochen, zu kommen. Und wenn Herta einmal etwas versprach, hatte sie es immer gehalten.
Je länger er wartete, um so
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