Die Begnadigung
größer wurde seine Unruhe. Aber es war weniger Unruhe, die ihn durchjagte, als vielmehr eine Unsicherheit vor dem, was er Herta sagen wollte. Im Augenblick wußte er überhaupt nicht, wie er es ihr sagen sollte. Vor allem vor dem ersten Satz fürchtete er sich.
Kann man ein Jahr einfach überspringen, dachte er? Kann man seiner Frau, die seit einem Jahr bei einem anderen Mann lebt, gegenübertreten, als sei nichts gewesen? Kann man einen Teil des Lebens einfach auslöschen, so wie ein Schwamm ein paar Zahlen oder Buchstaben von einer Tafel wischt?
Er warf die Zigarette weg und zertrat sie. Im gleichen Augenblick sprang er auf.
Von Plön her kam ein Auto. Ein hellgrüner Wagen mit einem weißen Dach.
Sie ist es …
Sie hatte ihr Versprechen gehalten …
Sein Herz war plötzlich schwer wie ein Zentnergewicht.
Mit staksigen Beinen ging er dem Wagen entgegen, als dieser mit knirschenden Bremsen auf der anderen Straßenseite hielt.
Herta Färber hatte die Scheibe heruntergekurbelt und sah ihrem Mann mit schmalen, prüfenden Augen entgegen. Dr. Färber blieb einen Meter vor dem Wagen stehen.
»Herta!« sagte er heiser. Sie machte keinerlei Anstalten auszusteigen. Der Motor lief noch. Hatte sie es so eilig, weiterzukommen?
»Guten Abend!« sagte Herta Färber steif. »Was gibt es so Wichtiges, daß es nicht telefonisch auszumachen ist?« Jetzt drehte sie endlich den Zündschlüssel herum, öffnete die Wagentür und kletterte heraus. Ihre langen Beine in dem engen Kostüm waren einen Augenblick bis über die Knie sichtbar.
Er streckte ihr die Hand entgegen. »Guten Abend, Herta … Ich will dir keine lange Rede halten …«
Herta sah ihn spöttisch an. »Du warst nie ein Mensch, der Erklärungen abgab oder anhörte. Bei dir war immer alles so klar, wie es eben bei einem Chirurgen klar ist … anatomisch normal gewissermaßen. Geist und Seele, Beruf und Privatleben, Liebe und Abstinenz … alles war immer geregelt. Also bitte – ich höre. Auf der Straße zwischen zwei Autos kann man sich ja auch keine Romane erzählen.«
Färber atmete ein paarmal tief. Die Kühle Hertas wehte ihn eisig an, aber hinter dieser Kühle war noch etwas anderes, was ihn viel mehr erschreckte. Plötzlich ahnte er, was er, seit sie verheiratet waren, falsch gemacht hatte. Wenn er Herta jetzt ansah, aus der Distanz eines einsamen Jahres heraus, wußte er, was sie bei ihm gesucht und was er ihr zu geben versäumt hatte. Er erkannte hinter ihrer kühlen Maske den schwelenden Vulkan, neben dem er gelebt hatte, ohne sich dessen je bewußt geworden zu sein … selbst dessen Ausbrüche hatten ihm nicht die Augen geöffnet.
Es mußte furchtbar für sie gewesen sein, neben ihm herzuleben, immer bürgerlich brav, im Tiefsten unverstanden, unangesprochen, unerfüllt …
»Man hat mir eine Professur angetragen …«, sagte er, als müsse er dafür um Verzeihung bitten. Herta hob die Augenbrauen. Es war das einzige Zeichen eines Interesses.
»Gratuliere. Jetzt hast du's ja erreicht. Das große Ziel des Doktor Färber: Professor der Chirurgie! Es hat sich also gelohnt, dem alten Runkel die Runzeln an den Zehen zu küssen …«
»Herta!« Obwohl er sich dagegen wehrte, stieg in Färber Unmut und Zorn auf. »Ich habe dafür gearbeitet … schwer gearbeitet. Du weißt es ja selbst … Du … du … hast es ja selbst gespürt und die Konsequenzen daraus gezogen …«
»Durchaus nicht!« Herta Färber zupfte die Jacke ihres Kostüms gerade. Der Stoff spannte sich über der Brust. »Ich war verrückt nach Hansen …«
»Müssen wir jetzt davon sprechen?« sagte Färber gequält. »Es schmerzt, das von dir zu hören. Darum habe ich dich nicht um dieses Wiedersehen gebeten.«
»Ich dachte …«
»Bitte, hör mich an. Ich soll Professor werden. Runkel sprach sogar davon, daß er in mir seinen Nachfolger sieht. Den zukünftigen Ordinarius …«
»Ja … und?«
»Herta, bitte, versteh mich. Ich habe eine schlimme Zeit hinter mir. Ich habe mir oft nicht anders zu helfen gewußt als zu trinken … Betrunken habe ich in der Klinik operieren wollen. Der Chef hat mich nach Hause geschickt und für mich operiert … mehr als einmal … Er hat ein Verständnis aufgebracht, das keiner aufgebracht hätte. Und jetzt der Antrag der Professur … Ich bin Runkel zu tiefstem Dank verpflichtet.«
»So kann man es auch nennen. Andere sagen dafür: Er ist ihm mit Haut und Haaren ausgeliefert …«
»Macht es dir immer noch Spaß, mich zu attackieren? Kannst du
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